Tiere in Gefahr: Ihr Auftrag: Leben retten!
Von Dominik Rinkart Die Sonne brennt, Schweiß rinnt über die Schläfen, Mücken umsurren die Ohren. Es gäbe wahrlich angenehmere Tätigkeiten, um seinen Feiertag zu verbringen. Doch knapp 30 Personen aus dem Landkreis Offenbach haben eine Mission: Kleine Rehkitze vor dem Tod bewahren. Für dieses Ziel sind sie bereit, bis ans Ende ihre Kräfte zu gehen. In diesem Wald wird heute kein Tier sterben, sind sie sich sicher.

Noch herrscht Ruhe im Wald. Friedlich fliegen bunte Käfer von einer Wildblüte zur anderen, Vögel beobachten die natürliche Idylle aus der Luft und kleine Rehkitze liegen gemütlich in den hohen Gräsern der Lichtungen und warten auf ihre Mutter. Diese hat alle Zeit der Welt, sie wird ihr Kind schon holen, wenn es dann noch da ist. 100 000 Mal im Jahr findet in Deutschland eine Ricke ihr Kitz nicht wieder, sie riecht es zwar, doch erkennt es nicht, denn ein Mähdrescher hat es in kleinste Teile zerlegt.

Landwirt Volker Kuch kennt dieses Schicksal. Ob er selbst schon Rehe totgefahren habe? Er zögert, er kennt die Antwort und will sie selbst nicht wahrhaben: „Es passiert immer wieder“, ringt es aus sich heraus. Was will er auch machen: Etliche Hektar Land muss er just in der Zeit mähen, in der Ricken ihre Kitze im Gras verstecken. Ein Dilemma, das er mit nahezu jedem Landwirt zu dieser Zeit teilt. Die Evolution der Rehe kennt keine Mähdrescher: Droht Gefahr ducken sich die Tiere, verharren still und warten, bis der Fressfeind von dannen gezogen ist. Zum Glück kennt Volker Kuch den Naturfreund Karl Giebel. Zusammen mit den Mitgliedern dessen Vereins „Aktion Rehkitz e.V.“ durchsucht er jeden Quadratmeter der Wiese, bevor diese gemäht wird. Ein Anruf genügt.

Doch bevor es in die Wiesen geht, muss die bestockte Gruppe aufgeteilt werden. Karl Giebel steht auf dem Parkplatz und gestikuliert wild. Wer fährt in welchem Auto mit, wer übernimmt welche Wiese? Schließlich ist der Rettungstrupp auf diverse Autos aufgeteilt und der Ausflug in die Natur beginnt.

Mit behutsamen Tempo fährt ein Konvoi aus fünf Autos durch die Feuerschneise. Der Weg staubt in der Morgensonne. Jutta ist bereits zum vierten Mal bei einer solchen Suchaktion dabei. Im Auto der spontanen Fahrgemeinschaft werden ihr von den beiden Neulingen Sandra und Martin neugierig Fragen gestellt. Und Jutta kann die beiden beruhigen: „Ja, wir haben auch schon Rehkitze gefunden.“

Mitten im Wald hält der Konvoi. Es geht los. Nach wenigen Meter zu Fuß öffnet sich die Wiese vor der Gruppe. Schmetterlinge flattern über den wilden Blumen, die Sonne steht dicht über den hohen Bäumen. Links und rechts der Grünfläche steht ein Hochsitz. Das Gras geht hier bis zu den Knien – ein entspannter Einstieg. Wie ein Konzertdirigent steht Karl Giebel vor der Gruppe und gibt Anweisungen. „Bei einer so großen Gruppe ist Disziplin ganz wichtig,“ betont er, „die Reihe muss geschlossen bleiben!“ In zwei Meter Abständen stellt sich der Suchtrupp in einer geraden Linie auf. „Wir suchen keinen Schlüssel!“ ruft Giebel. Trotzdem müssen die Suchenden genau hinsehen. Mit ihren Stöcken voraus durchkämmen sie die Wiese. „Hier ist eine Lücke“, schallt es von links. „Bitte etwas langsamer“, ruft Giebel in Richtung Rechtsaußen. Nur wenn die Reihe zuverlässig geschlossen bleibt, können sich am Ende alle sicher sein, dass wirklich kein Rehkitz mehr auf der Wiese ist.

Die Suchenden nehmen ihre Sache ernst. Eine ältere Frau fühlt sich von ihrer Nebenfrau in ihrem Zwei-Meter-Abstand beschnitten und nimmt genervt fluchend eine neue Position ein. Giebel mahnt zur Contenance. Nach einer halben Stunde ist die Wiese durchkämmt. Ohne Erfolg, es konnte kein Kitz gefunden werden. „Seid nicht traurig“, ermuntert Giebel seine tierlieben Mitstreiter. Zu gerne hätten diese ein possierliches Rehkitz angetroffen. Doch wichtiger sei, dass der Bauer jetzt beruhigt sein kann, umreißt Giebel die Mission. Das sich bis zur Mahd ein neues Reh dort niederlässt, sein unwahrscheinlich: „Die Wiese riecht jetzt nach Mensch“, erklärt Giebel.

Die andere Gruppe hatte da mehr zu erleben und vermeldet zwei Kitze von der Wiese verscheucht zu haben. Eines sei dabei einem Mitstreiter direkt durch die Beine gerannt: „Der hat jetzt einen blauen Fleck“, lacht Giebel, während sich der Trupp zurück zu den Autos und auf den Weg zur nächsten Wiese begibt. Die Motivation der Gruppe ist ungebrochen, doch eine Tatsache erstaunt Sandra und Martin: „Ich dachte wir gehen mehr durch landwirtschaftliche Fläche“. Warum in Kürze in einem Naturschutzgebiet gemäht wird, in dem sonst nicht mal Fußgänger spazieren dürfen, ist den beiden ein Rätsel. Doch Landwirt Kuch kann entwarnen: „Wenn ich nicht mähen würde, gäbe es die Wiese nicht.“ Im Nu würde das Areal verbuschen. Das Biotop Magerwiese, mit all seinen bunten Blumen und Käfern, wäre dann Geschichte.

Währenddessen ist die Sonne langsam höher gestiegen. Mit ihr haben die Mücken Einzug über den Wiesen erhalten. Die Formationen ist schnell gefunden und engagiert stürzt sich die Gruppe in die nächste Wiese, deren Ende nicht zu sehen ist. Irgendwo dort hinten wird es wohl sein. Größeren geht das Gras hier bis zur Hüfte, Kleineren bis zur Schulter, den Stock durch das Dickicht zu schlagen wird zur Strapaze. Und die Sonne steht bald im Zenit. Die Ersten müssen ihr Engagement unterbrechen. Auch für Karl Giebel ist nach der halben Wiese und insgesamt zwei Stunden im Feld Schluss. Der 69-Jährige ist am Ende seiner Kräfte und lässt die Gruppe mit einem Funkgerät weiterziehen. Zum Erzählen ist der ehemalige Psychotherapeut jedoch nie zu müde

„Uns tut jedes Kitz weh“, berichtet er. Darum hat er 19 Landwirte in der Region angeschrieben und über sein Angebot informiert. Bis zum Ende der Saison wird er wohl bei Zwölf von ihnen gesucht haben. „Viele Landwirte wissen nicht was sie tun sollen“, erklärt er. Sie gehen mit dem Hund durch die Wiese oder versuchen sie vom Hochsitz aus zu durchblicken: Alles Alibi-Aktionen – wie Giebel es nennt. Dass die Rehe irgendeinem Landwirt egal sind, möchte er keinem unterstellen, jedoch: „Einigen tut es mehr weh, anderen weniger“, ist seine Erfahrung.

Plötzlich rauscht das Funkgerät. Die Gruppe ist auf etwas gestoßen: Vögel oder Hasen, so ganz wissen sie das nicht. Mit einem Schlag kehrt Energie in den rüstigen Herren zurück. Er schnappt sich eine seine Koppelstangen und stiefelt durch das hohe Gras zur Gruppe, die längst außer Sichtweite gelaufen war. Auf dem Weg dorthin erinnert er sich: Zu Beginn der Saison ist seine Gruppe auf ein Gelege mit 14 Fasaneneiern gestoßen. Funde, die im Gedächtnis bleiben.

Heute hat eine Mitstreiterin einen kleinen Strohklumpen gefunden, in dem kleine Tiere gefiept hätten. Sie tippt auf Hasen. Inzwischen sind diese jedoch verschwunden. Giebel hinterlässt seinen Markierungsstab. Alles Weitere müsse der Landwirt beurteilen. Rehe sind heute auch in dieser Wiese nicht zu finden. Volker Kuch kann also beruhigt mähen.

Schließlich ist es vollbracht. Erschöpft, verschwitz, zerstochen und zerkratzt begeben sich die tapferen Tierfreunde zurück zu ihren Autos und fahren zur Reiterruhe. Dort hat der Landwirt Brezeln, Kuchen, Wasser und Kaffee bereitgestellt. Wohltuende Erholung für die ausgelaugten Körper. Obwohl sie heute kein Reh gefunden haben, steht dennoch Zufriedenheit in den Gesichtern geschrieben: In diesem Wald wird heute kein Tier sterben!


Täglich sterben etliche Tiere auf den Feldern vor den Toren der Stadt: Kleine Rehkitze, die sich im Gras vor ihren natürlichen Fressfeinden verstecken und dabei von Mähdreschern getötet werden. Doch zum Glück gibt es zahlreiche Freiwillige, die die Felder vorher durchsuchen und den Tieren so das Leben retten. Wer dabei sein will, findet beim Aktion-Rehkitz e.V. die Möglichkeit dazu.