Flüchtlinge und die heile Welt
Charly Körbel (60) ist mit 602 Einsätzen, alle im Eintracht-Trikot, Bundesliga-Rekordspieler. Auch in dieser Saison erklärt er vor jedem Heimspiel die aktuelle Lage aus seiner Sicht.
Von Charly Körbel
Ja, die Eintracht spielt am Abend gegen Borussia Mönchengladbach. Aber irgendwie kann ich mich nicht richtig darauf konzentrieren. Das liegt an meinen Erlebnissen in den vergangenen drei Tagen. Von Mittwoch bis Freitag hat unsere Fußballschule ein besonderes Camp veranstaltet. Wir haben mehr als 70 Flüchtlingskinder zu uns eingeladen, unsere Trainer, ob Cezary Tobollik, Norbert Nachtweih oder Manni Binz, alle waren mit dem Herzen dabei.
Es ist beeindruckend, manchmal auch erschreckend, wenn man die Geschichten der 14- bis 18-Jährigen hört, die alle ohne ihre Eltern nach Deutschland gekommen sind. Aus dem Iran, aus Syrien, aus verschiedenen anderen Staaten. Viele wissen derzeit nicht einmal, ob ihre Eltern noch am Leben sind. Viele, auch junge Menschen, betreuen die Flüchtlinge. Diese Helfer haben meinen vollen Respekt. Es ist eine riesige Aufgabe für jeden von ihnen. Auch für uns war es nicht leicht. Wegen des schlechten Wetters mussten wir Regenjacken, ja, sogar Mützen, besorgen. Und dank Dolmetschern erfuhren wir manche Horrorgeschichten, wie die Jugendlichen nach Europa gekommen sind.
Manchen wurde von den Schleusern erzählt, in Deutschland könnte man innerhalb von zwei Jahren Ingenieur werden und dann das Geld für die Reise an die Verwandtschaft zurückschicken. Und dann sind sie hier und bekommen mit, dass alles viel schwerer ist.
Beim Training sind alle, darunter auch einige richtig gute Kicker, mit Eifer dabei, sie bemühen sich, lernen schnell, sind höflich und bedanken sich. Und beim Mittagessen erlebte ich etwas, was es in rund 15 Jahren Fußballschule noch nie gegeben hatte: Alles war ratzebutz aufgegessen, kein Reis mehr in der Schüssel, kein Eis mehr in der Kühltruhe.
Wenn man das miterlebt, da fragt man sich schon, wie bedeutend die Frage Sieg oder Niederlage bei einem Fußballspiel ist. Auf dem einen Platz trainiert unsere Profimannschaft in ihrer heilen Welt, auf dem Platz daneben trainieren Kinder, die nicht wissen, was ihnen die Zukunft bringt. Und man weiß plötzlich, dass dies nicht das einzige Camp sein wird, das wir veranstalten. Es schreit nach Wiederholung.
Die Überleitung auf das Gladbach-Spiel fällt mir schwer. Ich hoffe, dass unsere Profis nach der erschreckenden Vorstellung in Ingolstadt kämpfen, als ob es um ihre Zukunft geht. Natürlich hinkt dieser Vergleich, aber ganz falsch ist er auch nicht. Gladbach, in Hannover, dann gegen die Bayern: Wenn diese drei Spiele schief gehen, dann steckt die Eintracht komplett im Abstiegskampf.
Bei allem Respekt vor Ingolstadt: Ein solches Spiel muss man gewinnen! Aber wir waren als Mannschaft so schlecht, wie ich es nicht für möglich gehalten habe. Das war mit das schlechteste Spiel der jüngeren Vergangenheit. Armin Veh hat das genauso eingeschätzt, war entsprechend sauer und hat in der Länderspielpause seinen zu Hause gebliebenen Spielern das auch sehr deutlich vermittelt. Jeden Tag hat er seinen Profis Feuer gemacht, hat ihnen Videos vom 0:2 gezeigt. Hoffentlich hat jeder seine Lehren gezogen.
Denn sonst geht es gegen Mönchengladbach auch schief. Wir müssen den Gegner bedingungslos bekämpfen, müssen den Hebel umlegen, müssen engagiert in die Zweikämpfe gehen. Gladbach hat zwar Verletzungssorgen, aber auch einen Lauf.
Was für uns spricht: Seit 14 Heimspielen sind wir unbesiegt, bei den letzten fünf Samstagabend-Spielen gab es fünf Siege. Natürlich sind Fußballer abergläubig und deshalb helfen solche Statistiken.
Die Mannschaft darf sich aber nicht nur auf Alex Meier verlassen. Natürlich ist er seit Jahren ein Torgarant, aber "Treff-Pausen" ereilen jeden Stürmer mal – auch einen Thomas Müller oder einen Robert Lewandowski.
Mich haben die Diskussionen über Alex und die Nationalmannschaft gefreut. Klar, dass der Torschützenkönig der Bundesliga ins Gespräch gebracht wird, wenn das deutsche Team nicht gut spielt und dann auch noch so viele Chancen versemmelt. Genau da ist ja Alex ein Phänomen. Ich hatte eigentlich darauf gehofft, dass Jogi Löw unseren Kapitän fürs Georgien-Spiel nachnominiert, nachdem es ja ein paar Ausfälle gegeben hatte. Das wäre ein Zeichen gewesen. Aber Jogi ist ein Trainer, der die Sache lieber mit seinen Spielern durchzieht. Das hat man bei Klose gesehen, oder auch bei Podolski. Deswegen glaube ich nicht, dass der Alex bei der Europameisterschaft dabei sein wird. Dabei ist unbestritten: Verdient hätte er es. Zumal die Geschichte zeigt, dass Deutschland immer gut damit gefahren ist, auch mal gestandene, ältere Spieler im Kader zu haben.
Aber keine Angst, Jogi: Ich mache mir keine Hoffnungen mehr. Ich bin inzwischen wirklich zu alt für die Nationalelf.