Gegner-Check: Theoretisch weiß man in Nürnberg, wie es geht

An diesem Sonntag tritt die Frankfurter Eintracht in der Bundesliga beim 1. FC Nürnberg an. Wir haben den Gegner einmal etwas genauer unter die Lupe genommen.
Der Trainer: In Nürnberg ist im 17.Jahrhundert ein ganz besonderen Trichter erfunden worden. Mit seiner Hilfe, so hieß es im Volksmund scherzhaft, könnten Schülern Lerninhalte fast ohne Aufwand und Anstrengung quasi mechanisch „eingetrichtert“ werden. So würden Lehrer auch dem Dümmsten alles beibringen können.
So einfach läuft es in der Pädagogik natürlich nicht. Und der Nürnberger Trichter war auch kein profanes Werkzeug. Das geflügelte Wort geht auf den Titel eines Poetiklehrbuchs des Nürnberger Dichters Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658) zurück. Das Dichten sei bei richtiger Anleitung erlernbar, lautet eine der Kernthesen.
Man kann sie – ohne dabei viel falsch zu machen – auch auf den Fußball anwenden. Vielleicht haben sie sich beim „Club“ deshalb vor einem Jahr für Michael Köllner als Trainer entschieden. Der 48-Jährige hat schon mehrere Fußballtaktik- und Trainerhandbücher geschrieben. Er beherrscht aber nicht nur die Theorie sondern auch die Praxis. Köllner ist mit den Nürnbergern in die Bundesliga aufgestiegen. Der Mann, der vor den Club-Profis fast nur Jugendmannschaften trainiert hat (auch beim DFB), will seinen Jungs jedoch auch andere Horizonte eröffnen. „Bildung hat noch keinem geschadet“, hat er mal gesagt. Stichwort Trichter.
Im Trainingslager ging er mit ihnen ins Kloster, vor der Bundestagswahl diskutierte er über Politik, zuletzt legte er den Spielern das Mertesacker-Interview ins Fach; Per Mertesacker hatte offenherzig über Druck im Profifußball gesprochen, und darüber, dass er vor jedem Spiel Durchfall oder Brechreiz hatte.
Oder die Sache mit den Smartphones. Köllner bittet die Spieler schon mal, sie abzuschalten und stattdessen miteinander zu reden. „Die Spieler machen das dann auch und bleiben zum Beispiel beim Essen länger sitzen“, sagt er, „das ist ein Nährboden für eine gute Gesprächskultur.“
Die einen beschreiben ihn als „fürsorglich“ und „zugänglich“. Es gibt aber auch Zeitungsartikel, in denen er als „kantig“, „schwer zugänglich“ oder „eigenwillig“ beschrieben wird. Er sei ein „Besserwisser“ und – das war wohl nicht nett gemeint – ein „Allesköllner“. Er leidet nicht unter Komplexen und hat beim Club ohne großes Federlesen einige langgediente Angestellte ersetzt. Köllner ist gelernter Zahnarzthelfer. Er weiß also, wie man dem Personal auf den Zahn fühlt.
Die Stimmung: Die Vorfreude auf die neue Saison war, wenig überraschend für einen Aufsteiger, groß. Sowohl für Trainer Köllner als auch für den Großteil der jungen Mannschaft ist es der bisherige Höhepunkt der Karriere – an Motivation sollte es da nicht mangeln. Nürnberg bekommt von vielen Seiten aber auch das Label „Abstiegskandidat Nummer eins“ verliehen. Mit einem Etat von rund 70 Millionen Euro sind die Franken am Tabellenende der Liga angesiedelt. Es gab vor der Saison keine namhaften Verstärkungen, der Kader weist kaum Bundesligaerfahrung auf.
Die Verantwortlichen leben trotzdem einen stoischen Optimismus vor, ein klares Ziel möchte man jedoch nicht ausgeben. „Wir definieren uns nicht über einen Tabellenplatz“, sagte Köllner vor der Saison. Heißt auch: Ein direkter Wiederabstieg gehört mit ins Kalkül. So weit davon entfernt ist der Club – Stand jetzt – nicht. Nach acht Spieltagen hat er trotz eines guten Starts in die Saison aber nur acht Punkte gesammelt, ist Tabellen-14. und zwei Zähler vom Relegationsplatz entfernt.
Der Kader: Köllners Bildungsoffensive hat dafür gesorgt, dass seine Spieler mit Meinungsstärke und Selbstreflexion umzugehen wissen. Nach Ansicht von Nürnbergs Kapitän Hanno Behrens können Fußball-Profis heutzutage öffentlich kaum noch ehrlich ihre Meinung sagen. „Das hängt in erster Linie mit der gestiegenen medialen Aufmerksamkeit und auch mit den sozialen Medien zusammen. Jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt“, sagte Behrens jüngst in einem Interview.
Sein Teamkollege Tim Leibold sieht das auch so. „Wer verbal übers Ziel hinausschießt, bekommt das wie einen Bumerang zurück“, sagte Leibold in dem Doppel-Interview mit Behrens. Einen Job beim FC Bayern München wird er jetzt wohl nicht mehr bekommen.
Den will er vielleicht auch gar nicht haben. So wie Kollege Behrens. Der 28-jährige Ex-Darmstädter entwickelte sich in Nürnberg zum Anführer, zum Gesicht der Aufstiegsmannschaft. Im Aufstiegsjahr legte Behrens die beste Saison seiner Karriere hin, avancierte mit 14 Toren als Mittelfeldspieler sogar zum treffsichersten Nürnberger. Lohn: Die Fans wählten ihn zum „Clubberer der Saison“.
Und der Rest? Sportdirektor Andreas Bornemann und der vergangenen Montag im Amt bestätigte Aufsichtsrats-Boss Thomas Grethlein betonen seit ihrer Amtsübernahme 2015 immer wieder, dass eine Abkehr von der wirtschaftlichen Vernunft angesichts von über 20 Millionen Verbindlichkeiten existenzgefährdend wäre. Etwas mehr als vier Millionen Euro wurden vor der Saison locker gemacht. Die reichten für den früheren Darmstädter Torhüter Christian Mathenia, inzwischen die neue Nummer eins, den Bremer Ergänzungsspieler Robert Bauer, einen Nachwuchsmann vom FC Bayern und einen vom HSV – und für Yuya Kubo, Matheus Pereira und Virgil Misidjan die man kurz vor Transferschluss holte. Kubo und Misidjan, beide im Mittelfeld unterwegs, haben sich als Verstärkungen entpuppt. Vorerst verzichten müssen die Clubberer auf Mittelstürmer Mikael Ishak. Der schwedische Nationalspieler leidet an einer Innenbandzerrung im linken Knie. Im Vorjahr war er mit zwölf Zweitliga-Toren maßgeblich am Nürnberger Aufstieg beteiligt.
Die Statistik: Bei keinem aktuellen Bundesligisten holte die Frankfurter Eintracht im Schnitt so viele Punkte wie die 1,43 in Nürnberg, wo sie nur zwei der letzten 15 Gastspiele verlor. Die Nürnberger feierten ihre beiden Saisonsiege zu Hause (jeweils zu null) und verloren mit der löchrigsten Abwehr der Liga (19 Gegentore) drei der letzten vier Partien mit insgesamt 16 Gegentoren. Die Heimbilanz der Nürnberger gegen die Eintracht: Acht Siege, zehn Unentschieden, zehn Niederlagen, 38:40 Tore.
Und das noch: Nürnberg werden die Eintracht-Fans auf immer mit der Relegation und geglückten Rettung im Frühjahr 2016 verbinden. Und mit einem der schönsten Fotos, das es vom eigentlich ein wenig drögen ehemaligen Frankfurter Vorstandschef gibt: Heribert Bruchhagen mit weit ausgebreiteten Arbeiten und vor Glück strahlend auf fränkischem Rasen. Das war spontan, das hatte ihm vorher niemand eingetrichtert.
(rich)