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Am Limit

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© Eintracht-Archiv

Der zehnte Spieltag der Saison 1998/99 zeichnet für die Fans der Frankfurter Eintracht ein durchaus bekanntes Bild, das sich auch aktuell bietet: Während die Bayern aus München souverän die Tabelle anführen, müssen die Frankfurter mit einiger Sorge in Richtung Abstiegsränge schielen. Und ausgerechnet jetzt, am 31. Oktober 1998, sind die Großkopferten aus der bayerischen Landeshauptstadt zu Gast im Waldstadion.

Von Frank Gotta

Am Riederwald haben wie so oft in vergangenen Zeiten die Worte des Präsidenten keine lange Halbwertzeit. Trotz Rolf Hellers Aussage, dass sich „die Trainerfrage für uns nicht stellt“, sickert schnell durch, dass im Fall einer Niederlage gegen die Bayern bereits für Samstagabend eine Krisensitzung des Präsidiums durch Vizepräsident Dr. Lämmerhirdt anberaumt worden ist, in der es einzig um die Trainerfrage geht.

„In einer Notsituation würde ich mich der Verantwortung nicht entziehen, wenn das Präsidium so entscheiden sollte“, antwortet der Technische Direktor Gernot Rohr, der ebenfalls Sitz und Stimme im Präsidium hat, nur vielsagend auf die Frage, ob er die Mannschaft im Fall der Fälle als Interimstrainer betreuen würde. Zudem machen Gerüchte die Runde, dass Reinhold Fanz, dem Trainer von Hannover 96, bereits ein von Teilen des Präsidiums und Verwaltungsrat abgesegneter Vorvertrag mit der Zusage vorgelegt wurde, dass er Nachfolger von Ehrmantraut wird.

„Total deplatziert“, kann da Aufstiegstrainer Horst Ehrmantraut nur schimpfen, „wenn das tatsächlich so sein sollte, dann wären wir arm dran. Man kann das Wohl und Wehe eines Trainers nicht an einem Spiel gegen die Bayern festmachen. Entweder der Verein bekennt sich zu meiner Arbeit, oder man trennt sich.“

Bei all den Streitereien geht fast unter, dass immerhin bei den Neuzugängen in dieser Woche überraschend Nägel mit Köpfen gemacht wurden. Denn Rohr verpflichtete fast im Alleingang für eine Ablösesumme von 750 000 Mark den 29-jährigen Abwehrspieler Tore Pedersen von den Blackburn Rovers, den er bereits im Vorjahr nach Bordeaux holen wollte. Auch für Ehrmantraut ist Pedersen kein Unbekannter, denn der Norweger spielte zuvor mit Thomas Sobotzik bei St. Pauli und wird nach nur zwei Trainingseinheiten mit der Mannschaft in der Startelf gegen den Tabellenführer FC Bayern stehen.

„Das wird gigantisch schwer, denn wir müssen punkten. Wir brauchen die Zähler, um aus unserer misslichen Lage rauszukommen“, beschwört der Trainer und appelliert an seine Spieler: „Wir dürfen keine Angst zeigen, sondern müssen mit einer gewissen Frechheit ins Spiel gehen.“ Das ist sicher leichter gesagt, als getan. Aber vielleicht hat die Eintracht ja das Glück, dass die Bayern nach ihrem 4:2-Pokalsieg gegen Duisburg vor drei Tagen ihre Konzentration bereits auf die kommenden „Megaspiele“ (Oliver Kahn) richten: Am Mittwoch geht es in der Champions League zum FC Barcelona und danach wartet das Derby gegen den Tabellenzweiten der Bundesliga 1860 München. Dies wird wohl nicht geschehen, wenn es nach Trainer Ottmar Hitzfeld geht. Für den Zwischenstopp in Frankfurt kann er neben den Gladbacher Neuzugang Stefan Effenberg wieder auf Matthäus, Basler und Strunz zurückgreifen, muss aber auf den gelbgesperrten Elber verzichten, für den Jancker beginnen wird.

Sobotziks Spitzelei

Nach einem dauerhaften Regen glitschig ist der Boden im Waldstadion, so glitschig, dass es den Anschein hat, die Bayern vermeiden jeglichen Körpereinsatz. Sie beginnen das Spiel mit geradezu aufreizender Lässigkeit, schieben sich die Kugel im Mittelfeld hin und her, um darauf zu warten, dass die Eintracht die Initiative übernimmt. Die zeigt jedoch viel zu großen Respekt und versucht sich ebenfalls zunächst in Ballkontrolle, so dass es in der ersten halben Stunde zu keinen Chancen kommt. Das Spiel plätschert so vor sich hin. Der ehemalige Vizepräsident und Sportliche Leiter Bernd Hölzenbein witzelt bereits über den extrem pomadig auftretenden Effenberg: „Der spielt so, als wäre er heute Morgen um fünf Uhr in eine Polizeikontrolle geraten.“ Das scheint der Gescholtene gehört zu haben und lässt sich in der 32. Minute zu einem rüden Foul an Schur im Halbfeld hinreißen, für das er die Gelbe Karte und die Eintracht einen Freistoß kassiert. Aus dem rechten Halbfeld schlenzt Brinkmann das Leder in den Strafraum, wo Weber es mit dem Kopf verlängert. Genau richtig für Sobotzik, der die Kugel aus fünf Metern an Torhüter Kahn vorbei zur 1:0-Führung ins Tor spitzelt.

Auch wenn die Bayern sofort versuchen, den Druck zu erhöhen, spielt erst einmal die Eintracht. Immer wieder geht es über Spielmacher Schneider sowie die glänzend aufspielenden Sobotzik und Weber nach vorne. Torchancen erspielen sie sich zwar keine hochkarätigen, aber immerhin halten sie die Bayern damit erfolgreich vom eigenen Strafraum fern. Und wenn der Tabellenführer einmal kommt, dann haben die Manndecker Jancker und Salihamidzic im Griff, während Basler bei Pedersen gar völlig abgemeldet ist. So geht es mit der knappen Führung in die Pause, die Kapitän Weber in der Kabine zu den motivierenden Worten nutzt: „Das lassen wir uns nicht mehr nehmen.“

Während sich Bayern-Präsident Beckenbauer in der Pause „endlich ein spielerisches Feuerwerk“ bei inzwischen wieder strömendem Regen wünscht, reagiert der Münchner Trainer Ottmar Hitzfeld, nachdem bereits Linke für Babbel in die Partie kam. Er bringt mit Daei für Manndecker Kuffour einen weiteren Stürmer, so dass Jeremies ins Mittelfeld rutscht und Matthäus in die Abwehr zurückgeht. Tatsächlich erhöhen die Bayern den Druck und schnüren die Eintracht in der eigenen Hälfte ein. Aber mit viel Einsatz kann diese sich bislang erfolgreich erwehren oder hat das Quäntchen Glück. Wie in der 54. Minute, als Salihamidzic sich im Gestocher vor dem Fünfmeterraum durchsetzt, den Ball aber nicht an Nikolov vorbei bringt.

Die Uhr tickt

Die Bayern drücken, die Frankfurter rackern. Gerade Jancker liefert sich bissige Zweikämpfe mit Kutschera, dem der Stürmer bereits kurz vor der Pause eine mitgegeben hatte. Nun reicht es ihm erneut und er fährt dem 30-Jährigen so heftig in die Beine, dass Schiedsrichter Weber Gelbrot zeigt und Jancker unter dem Jubel der Zuschauer zum Duschen schickt (61.). Jetzt wird es für die Bayern noch schwerer, sich Überzahlsituationen im Mittelfeld zu erspielen, zumal Matthäus gar nicht daran denkt, seine Libero-Position aufzugeben. Lediglich Daei kann einmal frei gespielt werden, scheitert aber mit seinem Schuss an Nikolov (65.). Nachdem bei der Eintracht Zampach für Brinkmann kommt, reagiert der Bayern-Trainer erneut und bringt mit Zickler für Salihamidzic einen neuen Stürmer.

Doch auch dies bringt nicht viel, denn immer wieder kann sich die Eintracht aus der Umklammerung befreien und ihrerseits kontern. Auch ein Verdienst des Kapitäns Weber, der vom Kicker-Sportmagazin in die „Elf des Tages“ gewählt wird: „Er war das kämpferische Vorbild, sowohl gegen Strunz als auch später gegen Effenberg klarer Zweikampfsieger und trug immer wieder das Spiel nach vorne.“

Allerdings endet die Frankfurter Herrlichkeit am gegnerischen Strafraum, woran auch die Einwechslungen von Pisont für Pedersen und Westerthaler für Yang nichts ändern (79.). So bleibt es spannend, die Uhr tickt. Präsident Heller hält es schon lange nicht mehr auf der Ehrentribüne, Oliver Kahn rennt als Aushilfsstürmer vor dem Frankfurter Strafraum herum und Horst Ehrmantraut hüpft wie ein Rumpelstilzchen vor seinem Plastikstuhl herum, während der Rest der knapp 60 000 Zuschauer den Schlusspfiff herbei sehnt.

Als dieser ertönt, lässt sich Torhüter Nikolov auf den Boden fallen, Präsident Heller stürmt auf den Rasen, während die Mannschaft nach ausgelassenen Tänzchen zu einer Ehrenrunde antritt und das Publikum lautstark „Ehrmantraut, Ehrmantraut“ intoniert. Von Dr. Lämmerhirdt und auch von Gernot Rohr ist indes wenig zu sehen. Zu beschäftigt scheinen sie damit zu sein, die Präsidiumssitzung auf einen späteren Termin zu verlegen. Denn nach dem Sieg gegen den Tabellenführer und dem Verlassen der Abstiegsränge ist nicht gut Trainer entlassen …

„Der Sieg ist gigantisch schön, aber nicht weil der Gegner Bayern München heißt, sondern wegen der drei Punkte“, freut sich derweil Ehrmantraut und legt nach: „Spielerisch waren wir nicht gut, taktisch dafür sehr gut und kämpferisch am Limit. Heute hat jeder gesehen, dass hier eine enge Verbindung zwischen Mannschaft und Trainer besteht.“

Glückliches Ende

Die Niederlage in Frankfurt ist eine von vieren, die sich Bayern in dieser Saison leistet. Das reicht schlussendlich für die souveräne Meisterschaft mit 15 Punkten Vorsprung vor Leverkusen. Für die Eintracht dagegen stehen Chaos und Abstiegssorgen saisonübergreifend im Mittelpunkt: Nach vier Trainern – Ehrmantraut, Lippert, Fanz und letztlich Berger – erlebt die Bundesliga am 29. Mai 1999 den bislang dramatischsten Abstiegskampf, der für die Frankfurter mit Fjørtofts Übersteigertor zum 5:1 gegen Kaiserslautern glücklich endet.

Eintracht – Bayern 1:0 Eintracht: Nikolov, Houbtchev, Bindewald, Kutschera, Pedersen (76. Pisont), Brinkmann (64. Zampach), Schur, Weber, B. Schneider, Sobotzik, Yang (79. Westerthaler)

FC Bayern: Kahn, Matthäus, Babbel (37. Linke), Kuffour (46. Daei), Lizarazu, Strunz, Jeremies, Effenberg, Basler, Jancker, Salihamidzic (69. Zickler)

Schiedsrichter: Weber (Bergkamen)

Tor: 1:0 Sobotzik (32.)

Zuschauer: 58 500

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