Abstand gewinnen zu den Bauchschmerzen aus Hass

Im Lisbethtreff in Sachsenhausen finden wohnungslose Frauen Schutz, Ruhe, Hilfe und neue Motivation
Loslassen, Alltagsprobleme für eine Weile zur Seite legen, Kraft schöpfen und Strategien entwickeln, wie man sich vor der Stress-Spirale emotional schützen kann, ist etwas, das jedem gut tut. Für wohnungslose Frauen ist Achtsamkeitstraining mehr als nur das.
Eine Vase voller Blaurute und Gräsern steht auf einem runden grünen Set auf dem Boden des freundlichen Raumes mit leuchtend gelben Wänden. Im Lisbethtreff der Caritas am Affentorplatz können Frauen, die wohnungslos sind oder von Wohnungslosigkeit bedroht sind, duschen, Wäsche waschen, Computer mit W-Lan nutzen und vor allem Schutz vor Hitze, Kälte und Gewalt finden. Männer sind tabu.
Der Besuch der Tochter
Die weißen Tische sind an die Wand geschoben, um Platz für Stühle rund um die Blumenvase zu schaffen. Liana* (Name von der Redaktion geändert) entschuldigt sich. Sie kann heute nicht dabei sein beim Achtsamkeitstraining. „Meine Tochter ist da und holt mich ab“, sagt sie und strahlt teils ungläubig, teils glücklich. „Die Tochter wusste nicht, dass Liana wohnungslos ist. Ihre Mutter hat es vor Scham verschwiegen“, erklärt Barbara Weiland, die seit vergangenem Jahr dienstags Achtsamkeitstraining für die Frauen im Treff anbietet.
Amelie*, Petra*, Kerstin* und Carla* nehmen Platz rund um Weiland und Tagestreff-Leiterin Franziska Schäfer. „Zur Ruhe kommen und Impulse finden“ ist das Ziel. An der Klangschale ertönt ein Ton, Zeit für eine Minute Ruhe, atmen, aufrecht sitzen und den Kopf wie von einer Schnur gehoben. „Was zehrt und raubt Energie? Wie kann ich gegensteuern“, ist das Thema.
Kerstin erzählt von Verwandten, die oft wegen Nichtigkeiten streiten, obwohl sie rundum glücklich sein könnten. „Ich gehe dann laufen, von Brücke zu Brücke und könnte heulen, wenn ich das sehe“, erzählt sie. Petra hat aufgehört, sich zu ärgern, wenn Zwei-Euro-Bestellungen im Internet nicht klappen. „Die Lösung ist, dass es keine Lösung gibt. Ich muss nicht“, sagt sie mit lockerer Stimme und angespannten Muskeln. Amelie bekommt „Bauchschmerzen vor Hass“, wenn sie Online-Gutscheine bekommt. „Die laufen ab. Ich würde viel lieber mit der Person spazieren gehen, reden oder Radfahren. Das Leben ist nur noch digital. Keiner hat mehr Zeit. Das ist schlimm“, sagt sie. Carla sucht ihre Tante, die am Römer arbeitet. „Keiner hört mir zu. Auch mein gesetzlicher Betreuer nicht“, erzählt sie. „Dann geht mein Hals kaputt, ich kriege keinen Ton raus und lache“, sagt sie und kann nicht entspannen. Schäfer berichtet von einem Besuch in der Drogerie, als sie den Gutscheincode einlösen will aber die Technik streikt. „Die Kassiererin hat mich vor allen laut angemacht, dass ich die Schlange aufhalten würde. Ich wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte und habe um Fassung gerungen.“
Emotionen kochen hoch
Alles Momente, die Emotionen hochkochen lassen. Emotionen, die Kraft und Energie rauben. Weiland geht auf jede Teilnehmerin aufmerksam ein, hört zu und fragt nach den individuellen Gefühlen in diesen Momenten. Ihr Blick ist sanft, humorvoll führt sie zu Lösungen, die den inneren Ärger in solchen Augenblicken reduzieren können. „Atmen“ sei eine große Hilfe, wenn andere negative Gefühle bei einem auslösen. Trauer, Wut, Ohnmacht, Scham werden von anderen bei einem selbst ausgelöst
„Der Körper reagiert bei unangenehmen Momenten sofort. Der Bauch, der Kopf, die Muskeln, der Herzschlag. Bei jedem ist es anders. Das Gedächtnis merkt sich die Abneigung gegen solche Momente, die Abwehr, Flucht oder Erstarren oder ganz viel dazwischen auslösen.“ Es helfe, wenn man sich bewusst sei, dass es immer wieder diese Momente gibt und „vorher aussteigt, Abstand gewinnt, bewusst atmet und in sich reinhört, um sich klar zu werden, dass es andere sind, die ungute Gefühle verursachen. Man ist nicht ausgeliefert.“ Der Pfeil des anderen treffe, der zweite - schlimmere - Pfeil sei der, den man auf sich selber richtet und die eigenen Gedanken gegen sich selber lenkt. Atmen, Abstand gewinnen, den eigenen Körper beobachten. Alle nehmen sich vor, Unverschämtheiten anderer nicht zum eigenen Problem werden zu lassen. „Das klappt nicht immer, aber je öfter man es trainiert, desto besser kann man damit umgehen“, so Weiland. Sie erinnert an Liana, die so glücklich war, ihre Tochter zu sehen. Ihre Tochter, die im Ausland lebt und nichts vom Schicksal ihrer Mutter wusste, weil sie es aus Scham verschwiegen hatte. Liana ist aufrecht, stolz aus dem Lisbethtreff gegangen. Alle hoffen für sie, dass die Tochter sie zu sich nach Hause holt. SABINE SCHRAMEK