"Als Erstes wird das Dach abgedeckt"

Heute starten die Arbeiten am Alten Rathaus.Zwei Jahre soll die Sanierung des Alten Rathauses an der Marktstraße dauern. Über die kaputte Fachwerkkonstruktion, die Besonderheiten des Alten Rathauses und den geplanten Bauablauf sprach Friedrich Reinhardt mit den verantwortlichen Architekten Helmut Jäger und Annabel Gräfin zu Stolberg-Wernigerode vom Büro "Die Baurunde".
Drei Jahre haben sie sich intensiv mit dem Alten Rathaus beschäftigt. Was sind die Stellen und Konstruktionen dieses historischen Gebäudes, die sie besonders entzückt haben?
HELMUT JÄGER: Also die Treppe ins erste Geschoss mit den geschwungenen Stufen ist eine barocke Zutat. So etwas habe ich noch nicht gesehen. Aber was mich besonders freut, ist die Vollständigkeit dieses klassischen Dachstuhls.
ANNABEL GRÄFIN ZU STOLBERG-WERNIGERODE: Ich habe sehr auf die Fassade und das gesamte Erscheinungsbild des Baudenkmals reagiert. Ein Gebäude mit diesem herrlichen Erdgeschoss aus Bruchstein, was auf eine frühere Zeit hindeutet. Darauf der aufgesetzte Fachwerkbau und mit dem Dachreiter, das finde ich wunderbar.
Um das Fachwerk soll es nicht sonderlich gut stehen. Ist das so?
JÄGER: Ja, Fachwerkhäuser sind gebaut wie ein Stecksystem. Jedes Element ist mit dem anderen durch eine Holzverbindung gekoppelt. Durch diese vielen Verbindungen ist das Gebäude stabil, gleichzeitig auch flexibel, weil die Verbindungen alle irgendwo einen Millimeter Spiel haben. Darum gibt es keine Risse, wie bei Betonwänden, wenn Schwingungen entstehen. Darum sind so viele Gebäude aus dem 13. oder 14. Jahrhundert erhalten und werden heute noch bewohnt. Im Rathaus sind die Holzverbindungen teilweise stark beschädigt.
Was genau ist am Alten Rathaus kaputt?
JÄGER: Das Problem bei Fachwerkhäusern ist die Einwirkung von Feuchtigkeit auf das Holz. Zwischen der Gefachausfüllung und dem Holz entstehen Fugen, Wasser dringt ein, das Holz fängt an zu faulen. Wenn es dort anfängt zu faulen, wo es zusammengesteckt ist, lösen sich die Verbindungen auf. Man muss sich ein Dreieck vorstellen, auf dessen Spitze ein Gewicht liegt. Halten alle Ecken zusammen, passiert nichts. Löst sich aber die Verbindung, schieben sich die Schenkel des Dreiecks langsam auseinander.
Und das passiert mit dem Fachwerk des Alten Rathauses? Es schiebt sich auseinander?
JÄGER: Das würde passieren, wenn nicht ein Gerüst mit einer Sicherungskonstruktion das Gebäude zusammenhalten würde. Damit wird eine Seite des Gebäudes mit der anderen verspannt. Darum kann nichts passieren, aber ohne das Gerüst kann das Gebäude nicht sicher stehen. Aber es sind nicht nur morsche Balken.
Sondern?
JÄGER: Wenn Sie sich den Dachstuhl genau anschauen, wird Ihnen auffallen, dass Holzbalken im Laufe der Jahrzehnte leichtsinnig durchsägt oder Bauteile wie Streben entfernt wurden, vielleicht, weil sie für irgendeine Nutzung im Weg waren. Das destabilisiert auch das Gebäude.
Warum durchsägt jemand Balken im Dachstuhl?
JÄGER: Über die Jahrhunderte setzt vieles einem Gebäude zu. Im Wesentlichen stehen veränderte Nutzungsanforderungen im Vordergrund, mangelndes Verständnis für die Konstruktion und manchmal fehlen Fachkräften, beispielsweise im Krieg.
Wie ist nun der Bauablauf für die Sanierung geplant?
STOLBERG: Aus der Konstruktion des Dachstuhls ergeben sich Abschnitte, in denen das Gebäude zusammengehalten wird. Wir orientieren uns bei der Sanierung an diesen Abschnitten. Anhand dieser konstruktiven Felder wird das Gebäude Schritt für Schritt saniert.
JÄGER: Erst wird das Dach über einem Abschnitt abgedeckt. Dann werden die Holzverbindungen von oben nach unten repariert, bis wir in die Fachwerkwand gehen, und die Erdgeschossdecke. Wenn das in der Regel vier Sparren breite Feld mit allem, was darunter liegt, instand gesetzt wurde, dann wird das nächste Feld abgedeckt und saniert.
Was folgt danach?
JÄGER: Bis Mitte nächsten Jahres wird der Dachstuhl instand gesetzt und das Fachwerk. Dann werden die Fenster erneuert. Danach beginnt außen der Verputz der Gefache und innen wird die Haustechnik eingebaut. Ende 2023 oder Anfang 2024 wird die Sanierung abgeschlossen.
Die Stadt hat angekündigt, dass der Dachstuhl nach der Sanierung von Kleingruppen besichtigt werden kann. Was ist so besonders an dem Dachstuhl?
JÄGER: Es ist ein typischer liegender Dachstuhl mit drei Etagen, wie man ihn selten findet. Er ist in Eiche gezimmert. Das zeugt von hoher Qualität, weil das Holz im 16. Jahrhundert teuer war. Er ist außergewöhnlich vollständig. Es gibt nur wenige Dachstühle, die im Originalzustand erhalten blieben über die Jahrhunderte.
Wenn Sie Schülern den Dachstuhl zeigen könnten, was würden Sie ihnen damit gern beibringen?
JÄGER: Die Art der Holzverwendung, wie Holz handwerklich bearbeitet wurde. Und etwas philosophischer, wie sich etwas stützt, wie man dafür gesorgt hat, dass Lasten nicht auf ein Tragglied drücken, sondern auf viele. So wie auch in der Gesellschaft.
Was wäre es bei Ihnen?
STOLBERG: Man kann anhand der Geometrie schnell das Prinzip des unverschieblichen Dreiecks zeigen. Über mehrere Ebenen kann ich sehen, wie Kräfte und Lasten eines Dachtragwerks verlaufen. Das kann man hier am Dachstuhl anschaulich vorstellen.