Jutta Ditfurth: „Der Antisemitismus war nach der Shoah nie weg“

Hass auf Israel ist auf den Straßen Frankfurts deutlich sichtbar
Jubel über Massaker an jüdischen Menschen, Parolen zur Zerstörung Israels, Markierung jüdischer Adressen mit Davidstern. Wie kommt der Antisemitismus auf Frankfurts Straßen?
Der Antisemitismus war nach der Shoah nie weg, nur verborgen. Kleine linke und linksliberale Gruppen warnten in den 1950ern und 1960ern und klärten auf. Andere Linke drifteten nach dem Sieg Israels im Sechstagekrieg von 1967 zum antizionistischen Antisemitismus ab. Dessen Wurzeln liegen im Stalinismus, aber auch in der Kooperation des NS-Regimes mit Teilen der arabischen Welt.
Auch in Frankfurt wurde dem Antisemitismus der Weg in die Salons geebnet, ein bisschen vorsichtiger vielleicht als anderswo. Zu viel offener Judenhass war, so bald nach der Shoah, schlecht fürs internationale Geschäft.
1982 bekam Ernst Jünger auf Vorschlag des SPD-Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann den Goethepreis. Jünger hatte 1930 bemängelt, dass „der Stoß gegen den Juden zwar oft unter großem Aufwand, aber immer viel zu flach angesetzt wird, um wirksam zu sein“. Aber wenn „der deutsche Wille an Schärfe und Gestalt gewinnt, wird für den Juden auch der leiseste Wahn, in Deutschland Deutscher sein zu können, unvollziehbarer werden, und er wird sich vor seiner letzten Alternative sehen, die lautet: in Deutschland entweder Jude zu sein oder nicht zu sein“. Wir organisierten bundesweite Proteste, es half nichts.
Martin Walser beklagte 1998 in der Paulskirche die „Moralkeule Auschwitz“ und die „Dauerpräsentation unserer Schande“. Standing Ovations der Honoratioren aller Parteien. Ihre entlasteten Gesichter haben sich in mein Gedächtnis gebrannt. Ignatz und Ida Bubis saßen zusammengesunken in ihren Stühlen. Heute brüllen Hamas-Fans „Free Palestine from German guilt!“ Nazis machen Aufkleber „Befreiung vom Schuldkult“.
Judith Butler, die wissenschaftliche Verdienste hat, bekam 2012 in Frankfurt den Theodor-W.-Adorno-Preis. Ein paar Jahre zuvor hatte sie Hamas und Hisbollah „als linksgerichtete soziale Bewegungen“ definiert. Sie hat 2003 dem in Gründung befindlichen BDS (Boycott, Divestment, Sanctions) die Türen in US-amerikanische Elitehochschulen geöffnet, wo inzwischen jüdische Studierende antisemitischen Angriffen ausgesetzt sind.
Butler bewies ihre „Unfähigkeit zu trauern“ und empfahl ihren Anhängern, das Massaker der Hamas vom 7.10. so lange zu „kontextualisieren“, bis es verschwindet.
Der BDS versucht Israel international politisch, kulturell und wirtschaftlich vollständig zu isolieren, mit dem Ziel, das kleine Land von der Landkarte zu fegen und alle Juden und Jüdinnen wenigstens zu vertreiben. Das ist die Bedeutung der BDS-Parole „Free Palestine from the river to the sea“.
Weil so wenige begriffen, auch als es 2017 zu einer BDS-Konferenz in Frankfurt kam, konnte sich der BDS auch in Frankfurt weiter ausbreiten: Da ist der Arzt Matthias Jochheim (IPPNW), der 2010 gemeinsam mit rechtsradikalen Türken auf der berüchtigten Gaza-Flotille nach Israel durchbrechen wollte. Hans Christoph Stoodt, Ex-Pfarrer, der jetzt den „Angriff der Hamas auf israelisches Staatsgebiet“ nicht „außerhalb des Kontextes“ verstehen will. Es sei „über das konkrete militärische und politische Ziel und Konzept der aktuellen Hamas-Aktion derzeit noch wenig bekannt“.
Behörden und Justiz in Frankfurt haben kaum Ahnung von antizionistischem Antisemitismus und seinen Codes. Wo jeder noch so ungebildete Antisemit den Judenhass sofort erkennt, versagen sie. So konnte BDS-Fan Roger Waters in der Festhalle auftreten, einem Ort der Deportation. Zum Pogrom der Hamas sagt Waters: Die „palästinensischen Widerstandkämpfer“ sind aus dem „Freiluftgefängnis Gaza“ ausgebrochen, sie hatten ein „gesetzliches Recht und eine moralisches Verpflichtung sich gegen ihre Besatzer zu wehren“. Zu vergewaltigen, foltern, verbrennen, ermorden, verschleppen?
2021 luden Studierende der Hochschule für Bildende Künste-Städelschule die US-Professorin Jasbir Puar ein. Sie beschreibt Selbstmordattentate als queere Form des Widerstandes („Terrorist Assemblages“) und wirft Israel einen „schwulen Propaganda-Krieg“ vor. Im Kulturausschuss im Römer wollte niemand darüber diskutieren.
Im Juli gründete die BDS-Aktivistin Aitak Barani den „Kulturverein“ Palästina e.V. Der meldete die Pro-Palästina-Demonstration am 14.10. in Frankfurt an. In der Satzung ihres Vereins steht: „Wir sind solidarisch mit allen Formen des palästinensischen Widerstands.“ Das Ziel sei „die Befreiung des gesamten historischen Palästinas von der zionistischen Besatzung vom Jordanfluss bis zum Mittelmeer“. Barani sagt jetzt: „Es gab kein Massaker der Hamas“, nur einen „Ausbruch aus dem Gefängnis Gaza“!
Heute möchten einige nichtjüdische vermeintliche Israel-Fans den Antisemitismus für ihren Rassismus instrumentalisieren: Grenzen dicht, schneller abschieben. Aber Antisemitismus lässt sich nicht abschieben, dafür ist er zu deutsch. Hier muss die Auseinandersetzung beginnen. Die wechselseitige Verstärkung von Antisemitismus und Rassismus macht alles nur noch schlimmer. (Jutta Ditfurth)
frankfurt@fnp.de
Jutta Ditfurth ist Politikerin und Aktivistin für Feminismus, Ökosozialismus und Antirassismus. Sie war Anfang der 80er Jahre Mitbegründerin der Grünen. Als Journalistin und Autorin von politisch engagierter Sachliteratur und Belletristik ist sie auch publizistisch tätig. Ihr Buch „Haltung und Widerstand“ (Hamburg 2019) befasst sich mit der Geschichte des „linken“ Antisemitismus.