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Versorgung vor dem Kollaps: Apotheker streiken wieder – „Die Schubladen sind leer“

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„Wenn die Grippewelle kommt, gehen hier die Lichter aus“, sagt der Vorsitzende des Hessischen Apothekerverbands, Holger Seyfarth. Er meint: Das Gesundheitsministerium hat versagt.

Frankfurt – Am Mittwoch, 15. November, streiken die Apotheken wieder – zum dritten Mal in diesem Jahr. Holger Seyfarth ist Apotheker in Frankfurt und seit sieben Jahren Vorsitzender des Hessischen Apothekerverbands. Redakteur Thomas J. Schmidt hat mit ihm über den dramatischen Medikamentenmangel gesprochen, den viele seiner Kunden – er schätzt 10 bis 15 Prozent – bereits jetzt spüren.

Wenn die Grippewelle kommt, wird es ganz schwierig. Dann gehen hier die Lichter aus. Dann können wir die Leute nicht mehr versorgen.

 Holger Seyfarth, Vorsitzender des Hessischen Apothekerverbands

Der Apothekerverband hat wieder zum Streik aufgerufen?

Nach dem Streiktag im Juni und dem am 2. Oktober ist es der dritte Streiktag für uns. Wenn Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach nicht reagiert, dann wird es weitere Maßnahmen geben. Die Medikamentenschubladen sind leer.

Holger Seyfarth, Vorsitzender des Hessischen Apothekerverbands, ist besorgt. Im Interview spricht er über den Medikamentenmangel und den Streik der Apotheker am Mittwoch.
Holger Seyfarth, Vorsitzender des Hessischen Apothekerverbands, ist besorgt. Im Interview spricht er über den Medikamentenmangel und den Streik der Apotheker am Mittwoch. © Enrico Sauda

Im Winter droht wieder ein Medikamentenmangel?

Schlimmer, wir haben jetzt schon einen akuten, aktuellen Medikamentennotstand, schon seit mehreren Jahren. Es hat sich im vorigen Winter bemerkbar gemacht, aber seitdem hat sich die Situation verschlechtert. Es sind 600 Medikamente, die aktuell nicht lieferbar sind, und das ist nur die Spitze des Eisbergs.

Im vergangenen Winter sind die Husten- und Fiebersäfte für Kinder nicht lieferbar gewesen. Was fehlt denn aktuell?

Ganz vorne stehen Schmerzmittel – also nicht Generika wie Ibuprofen, sondern verschreibungspflichtige Mittel. Es fehlen die ganz starken Mittel, Morphin-Derivate für Krebspatienten. Es fehlen Impfstoffe gegen HPV oder Röteln. Es fehlen Asthmatiker-Sprays, es fehlen verschiedene Krebs-Medikamente, es fehlen viele Medikamente für Diabetiker unter anderem Insuline, es fehlen viele Antibiotika. Bei mehr als 600 Medikamenten, die uns fehlen, können wir unsere Patienten fast in jeder Indikation nicht vernünftig versorgen.

Was machen die Patienten dann?

Sie gehen wieder zu ihrem Arzt und fragen, ob er ihnen etwas anderes aufschreiben kann. Der Arzt ruft in der Apotheke an und fragt, was überhaupt noch da ist oder in der Substanzklasse lieferbar. Dann muss man unter Umständen die Tablette teilen, wenn sie zu stark ist, oder man muss zwei Tabletten einnehmen, wenn sie zu schwach dosiert ist. Wir verstehen das ja noch. Aber für die multimorbiden Patienten – und das ist ja die große Gruppe – ist das schwierig. Ich möchte nicht fragen, wie viele Krankenhauseinweisungen darauf zurückzuführen sind.

Wie viele Ihrer Kunden sind denn betroffen?

Wir haben hier im Hauptbahnhof rund 500 Kunden täglich. Viel junge Laufkundschaft, die das Problem nicht hat. Aber gut 10 bis 15 Prozent unserer Kunden sind betroffen davon, dass sie nicht das Medikament bekommen können, das sie benötigen.

Das Gesundheitsministerium hat versagt?

Definitiv.

Und das neue Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz?

Der Name des Gesetzes ist nur Schall und Rauch und die Bürger werden getäuscht. Der Minister sagt selbst, dass es Zeit braucht, bis das Gesetz greift. Unsere Prognose ist: Es wird sich auch in Zukunft nichts verbessern. Denn man müsste ja die Produktion zurückholen, die jetzt in China und Indien stattfindet, nachdem man sie aus Deutschland vertrieben hat. Wann wird das geschehen? Im Winter? Im nächsten Sommer?

Also wann?

Wir reden von Dekaden. Wir reden von mindestens fünf bis zehn Jahren. Aber wer soll hier eine Arzneiproduktion aufbauen?

Die Industrie flieht gerade aus diesem Land wegen der Energiepreise...

Das kommt noch hinzu. Und der Minister träumt davon, die Produktion zurückzuholen, zu höheren Arbeitspreisen, Energiepreisen, und ich rede noch nicht davon, wie eine Arzneiproduktion aussieht.

Wie sieht sie aus? Eine Arzneiproduktion ist eine Chemiefabrik. Lösungsmittel, Katalysatoren, Umweltauflagen... Wo denn? Im Taunus? Im Odenwald? In Höchst.

Da war sie mal. Aber selbst die BASF verlagert die Produktion nach China und Indien, für 100 Milliarden Euro. Die gehen da nicht hin, weil sie wollen, sondern weil die Bedingungen dort besser sind.

Wie sind wir denn in diese Situation gekommen?

Die Krankenkassen haben über Jahre die Lieferanten plattgemacht. Wir reden zu über 80 Prozent von Generika-Herstellern wie Ratiopharm, Hexal oder Stada. Diese Nachahmer-Präparate müssen so billig produziert werden, dass eine Tablette gegen Blutzucker für unter zwei Cent angeboten werden muss. Eine Quartalspackung mit 100 Tabletten kostet weniger als zwei Euro – zu diesem Preis können Sie das nicht in Europa herstellen. Die Krankenkassen haben die Lieferanten über Jahre gedrückt mit der Begründung, dass Versichertengelder gespart werden müssen. Per se richtig, aber man darf dabei nicht die Infrastruktur zerstören. Das ist aber geschehen.

Was würde es denn kosten, die Versorgung zu verbessern?

Wir reden nicht von großen Beträgen. Wir verkaufen pro Jahr 700 Millionen von diesen Generika pro Jahr, die Packung zu 2 oder auch 3 Euro. Wenn die Regierung sagen würde, liebe Krankenkassen, gebt den Herstellern 1 Euro mehr pro Packung. Damit würde sich die Lieferfähigkeit und die Versorgung exponenziell verbessern. Dann brauchen wir nicht auf Fabriken in Deutschland zu warten, die nicht kommen werden.

Der Minister spricht von einer europäischen Lösung.

Ja, aber was heißt das? Die Spanier zahlen mehr, sie haben Medikamente, die Portugiesen haben sie. Sollen wir denen jetzt die Medikamente wegkaufen? Das ist doch absurd!

Aber müsste nicht mehr produziert werden?

Nein, nein, nein. Es gibt keinen weltweiten Produktionsmangel. USA, Kanada – alle haben Medikamente. Warum? Product follows money. (Anmerkung der Redaktion: Das Produkt folgt dem Geld) Die zahlen dafür. In China und Indien mit mehr als zwei Milliarden Menschen sind viele Leute wohlhabend genug, die Medikamente zu kaufen. In Pakistan und Indonesien wachsen diese Käuferschichten gerade heran. Und dort sind die Fabriken. Was glauben Sie, was die tun werden? Bestimmt nicht ihre Medikamente nach Deutschland liefern, wo sie weniger Geld dafür bekommen als im eigenen Land. Wir müssen uns ganz hinten anstellen und dann teuer einkaufen, was wir vorher weggegeben haben.

Wann ist denn das losgegangen mit der Sparerei im Gesundheitswesen?

Schon in den 90er Jahren wurden Produktionen verlagert, zuerst nach Osteuropa. Dann war das auch zu teuer. In den Nullerjahren kam der Boom in China und Indien. Das sind jetzt die Hauptproduzenten für die Substanzen. Und auch für die fertigen Medikamente. Das Grundproblem ist einfach, dass eine Quartalspackung für Blutdruckpatienten oder für Diabetiker auch etwas mehr kosten darf als eine gute Tafel Schokolade. Der Schaden, der entsteht, wenn die Patienten nicht mehr richtig eingestellt werden können, ist doch viel größer.

Es gibt doch auch Streitigkeiten in der Pharmaindustrie?

Ich erkläre Ihnen, wie das läuft. Eine Krankenkasse macht eine Ausschreibung für ein Medikament, sagen wir ein Blutdruckmittel. Sie machen die Ausschreibung über 20 Millionen Packungen pro Jahr. Jetzt könnte jeder denken, dass der mit dem besten Angebot den Zuschlag bekommt. Und zu dem Angebot zählt dann auch eine stabile Lieferkette und die feste Zusage, die richtige Menge zum richtigen Zeitpunkt zu liefern. Aber so ist es nicht. Vielmehr sagt die Kasse von Anfang an: Wir zahlen soundso viel, also etwa zwei Cent pro Tablette. Entscheidet euch, wer es macht.

Und dann?

Dann findet sich ein Hersteller. Bislang hat sich dann immer einer gefunden. Was machen die anderen? Sie entlassen ihre Leute, die nichts mehr zu tun haben. Und wenn bei diesem einen Lieferanten jetzt eine Maschine klemmt oder der Frachter in Panama quersteht, dann kommt nichts mehr. Und es gibt keinen anderen Hersteller für dieses Produkt mehr. Der Effekt ist zudem, dass viele, die früher Generika hergestellt haben, dieses ruinöse Spiel nicht mitmachen können. Früher gab es rund 30 Generika-Hersteller, jetzt gibt es noch zehn bis zwölf. Man verdichtet den Pool der Anbieter zu einem Oligopol.

Aber die Hersteller geben noch Angebote ab?

Die ersten Hersteller haben schon gesagt, wir geben kein Angebot mehr ab. Dann kriegen die Krankenkassen für ihre Ausschreibung kein Angebot mehr, müssen nehmen, was da ist, und einen höheren Preis zahlen. Sie müssen es den anderen wegkaufen, die vorher mehr gezahlt hatten.

Wie wird es in diesem Winter?

Es wird schlechter als im vergangenen Jahr. Wir machen zu 30 Prozent nichts anderes, als Lieferanten abtelefonieren. Wenn die Grippewelle kommt, wird es ganz schwierig. Dann gehen hier die Lichter aus. Dann können wir die Leute nicht mehr versorgen. Dann kommen wir in eine schwierige Lage: Wir müssten dann entscheiden, ob das Kind mit der Mittelohrentzündung das Antibiotikum bekommt oder der Erwachsene mit einem vereiterten Zahn. Wir wollen diese Entscheidung nicht treffen, aber wir werden sie treffen müssen, fürchte ich.

Wie sieht es in den Krankenhäusern aus?

Dort ist auch Ebbe. Sie fragen bei denselben Lieferanten nach wie wir. Die Reserveantibiotika sind im Krankenhaus knapp. Wenn bei uns die Schubladen leer sind, sind die im Krankenhaus auch leer.

Könnten Sie nicht Vorräte anlegen, so lange es etwas gibt?

Wir haben die Pflicht, uns für eine Woche zu bevorraten. Aber wenn die Grippewelle kommt, ist dieser Vorrat in einem halben Tag weg, und ob es Nachschub gibt, ist unklar. Es ist auch nicht unsere Aufgabe, Medikamentenvorräte anzulegen. Wir bekommen seit 20 Jahren dasselbe Geld für jedes verkaufte Päckchen, unabhängig davon, wie sehr die Löhne, die Mieten, die Energiekosten inzwischen gestiegen sind. Wir Apotheker sind Selbstausbeuter mit einem Arbeitstag von 14 Stunden und demselben Gehalt wie 2004. Im Grunde müsste der Staat im Rahmen seiner Daseinsvorsorge Medikamente bevorraten, wie er ja auch die Gasreserven managed. Der Staat hat ja auch mal zu Beginn von Corona Masken bevorraten wollen, erinnern Sie sich? Hat er nicht gemacht...

Zur Person

Holger Seyfarth (61) betreibt in Frankfurt vier Apotheken: Die Apotheke im Hauptbahnhof, die Arnsburg-Apotheke, die Eichwald-Apotheke und die Radilo-Apotheke. Das Pharmaziestudium in Frankfurt hat ihn interessiert, weil es von allen Naturwissenschaften etwas enthält. „Eigentlich bin ich zu 80 Prozent Heilberufler und zu 20 Prozent Kaufmann“, sagt er, „und der Staat hat 150 000 bis 200 000 Euro in mein Studium investiert.“ In der aktuellen Situation jedoch fühlt er sich eher als Logistiker, der sehen muss, wo er die Medikamente her bekommt, die seine Kunden brauchen. „Ich will nicht zu 80 Prozent Kaufmann sein.“ Als Vorstandsvorsitzender des Hessischen Apothekerverbands vertritt er 1400 Apotheken mit mehr als drei Milliarden Euro Umsatz. tjs

(Thomas J. Schmidt)

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