Arzt aus Frankfurt warnt vor Strafgebühr beim Kinder-Notdienst

Eine Neuregelung für den Notdienst fordert der Frankfurter Kinder- und Jugendarzt Dr. Burkhard Voigt. Denn ein Viertel der Fälle dort sind keine Notfälle.
Frankfurt -„Wir können so nicht weitermachen“, sagt Dr. Burkhard Voigt, Kinder- und Jugendarzt mit eigener Praxis in Bockenheim und 1. stellvertretender Landesvorsitzender des Berufsverbandes der „Kinder- und Jugendärzte*Innen in Hessen“. Nicht nur die Kinder- und Jugendarztpraxen im Regeldienst, auch die Notdienste sind völlig überlastet. Ein Vorschlag des Präsidenten des Bundesverbandes, Dr. Thomas Fischbach, ist nach Ansicht von Voigt aber nicht die Lösung. Fischbach hatte in einem Zeitungsinterview gefordert, dass Eltern für die missbräuchliche Nutzung von Notdiensten eine Gebühr zahlen sollten, um jene abzuschrecken, die ohne Not im Notdienst aufschlagen. Fischbach: „Die Notfallversorgung muss sich auf Notfälle konzentrieren und nicht auf die Pickel am Po der Kinder, für die die Eltern unter der Woche keine Zeit hatten.“ In solchen Fällen hält Fischbach eine Eigenbeteiligung der Versicherten für „absolut sinnvoll“. Im Gespräch mit Michelle Spillner betrachtet Burkhard Voigt diesen Vorschlag kritisch.
Was halten Sie von dem Vorschlag der Gebühr?
Ich halte es für schwierig, wenn Eltern, die finanziell knapp sind, dem Notdienst ein Kind vorenthalten, weil sie die Gebühr scheuen - ob das stimmt oder nicht, das ist eine Ethik-Falle.
Wie viele Patienten suchen denn überhaupt die Notfallsprechstunde auf, die gar kein Notfall sind?
Es kommt darauf an, welche Interpretation man für „notwendig“ verwenden will. Das ist subjektiv, je nachdem, was die Kollegin oder der Kollege als notwendig empfindet. Der berühmte Pickel am Popo ist nicht unbedingt ein Fall für den Notdienst. Insofern würde ich die Spanne schon größer ziehen: In etwa 5 bis 25 Prozent der Fälle kann man von einer falschen Inanspruchnahme des Notdienstes sprechen.
Dann wäre aber eine Gebühr doch vielleicht sinnvoll?
Dass man das steuern muss: Ja. Das über eine Gebühr zu tun, halte ich nicht unbedingt für zielführend. Der Kontext der Äußerung von Herrn Fischbach war aber ein bisschen anders. Es ging wohl eben genau darum, eine Möglichkeit der Steuerung aufzuzeigen.
Was für eine Steuerung meinen Sie?
Für eine Patientensteuerung gibt es andere Instrumente. Eine Kanalisierung über die Nummer des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes 116 117 wäre denkbar - wenn diese Nummer denn technisch, personell und finanziell vernünftig ausgestattet wäre. Das ist die Voraussetzung dafür.
Auf der 116 117 erlebt man aber doch, dass man ewig in der Warteschlange auf Platz 20 und weiter hinten hängt.
Genau, da gibt es Probleme, die muss man lösen. Und das ist nicht so einfach. Es gibt auf der 116 117 Anrufspitzen, die mit keiner Technik zu regeln ist. Das ist nur mit Distribution und Automation zu regeln - aber so viel Personal? Vor allem muss es auch finanziert werden. Aktuell finanziert das zum größten Teil die Ärzteschaft selber. Das geht von unserem Honorar runter. Das muss neu strukturiert werden, und auch die Kapazitäten müssen erhöht werden.
Welche Steuerungsmöglichkeiten schweben Ihnen noch vor?
Hier in Hessen wollen wir versuchen, eine Videosprechstunde einzuführen, um Erkrankungen per Video einzusortieren und zu behandeln. Da gibt es noch technische Schwierigkeiten, wie zum Beispiel das E-Rezept. Denn so eine Videosprechstunde macht nur Sinn, wenn Sie im Anschluss an die Videosprechstunde auch ein E-Rezept verschicken können.
Und was spricht gegen die Gebühr, abgesehen von ethischen Bedenken?
Erstmal: Wenn eine Gebühr kommt, dann darf nicht wieder der Arzt das Inkassounternehmen der Krankenkasse sein. Und dann: Wir haben knappe Ressourcen, die sind offensichtlich, und das wird sich auch nicht durch eine Gebühr ändern. Die Medizinstudienplätze sind nicht adäquat erhöht worden, und wenn sie jetzt adäquat erhöht würden, dann hätten wir erst in 15 bis 20 Jahren etwas davon. Wir müssen neue Wege finden, Patienten zu strukturieren und die vorhandenen Ressourcen sinnvoller einzusetzen. Neue Strukturen zu schaffen, die am Ende mehr Ressourcen fressen, wie zum Beispiel Gesundheitskioske, sind keine Lösung.
Wie knapp sind denn Ressourcen?
In Hessen haben wir ungefähr 475 niedergelassene Kinder- und Jugendärzte, und die sollen jetzt - wie Gesundheitsminister Lauterbach plant - irgendwelche Dienste tun. Die Kolleginnen und Kollegen arbeiten schon in ihren Praxen in der Freiberuflichkeit in der Regel über 54 Stunden pro Woche. Ich arbeite 62 Stunden pro Woche, und dann sollen wir auch noch 24 / 7-Notdienste aufrechterhalten und zusätzlich bestücken. Das kann nur dazu führen, dass die eine oder andere Praxis einen zusätzlichen Nachmittag zu hat, um die Arbeitszeit wieder rauszuholen. Es kann ja nicht sein, dass wir immer mehr und mehr arbeiten sollen und dafür kein äquivalentes Personal haben. Arbeitszeitschutzgesetze gelten zwar für Freiberufler nicht, aber die Selbstausbeutung hat ihre Grenzen überschritten.
Aber ansonsten läuft es gut?
Nein, wir haben zunehmend das Problem, dass es keine Medizinischen Fachangestellten (MFA) gibt. Wir haben jetzt eine Kollegin, die hört auf, weil sie sagt, sie kann das nicht mehr. Sie hat versucht, mit einer halben Stelle die Praxis aufrechtzuerhalten. Ich bräuchte eigentlich fünf MFAs, ich habe eineinhalb. Diese Situation spitzt sich weiter zu.
Geht das allen so?
In der Stadt ist es schwieriger als auf dem Land. Auf dem Land ist das Angebot zwar ausgedünnt, aber die Personalsituation auf dem Land sieht besser aus, weil in der Stadt die Lebenshaltungskosten höher sind. Wir in Frankfurt zahlen schon fast alle übertariflich, was nicht gegenfinanziert wird. Dass man da unbedingt etwas tun muss, das ist eine zentrale Forderung unseres Verbandes und der Ärzteschaft. Ich verweise auf die sieben Punkte der KBV, die in Berlin aufgestellt wurden. Die Forderungen sind für die ambulante medizinische Versorgung unbedingt notwendig.
Aber es entstehen doch überall medizinische Versorgungszentren. Das sieht doch nach einer guten Versorgung aus.
Das ist keine Lösung, kommunale Medizinische Versorgungszentren zu gründen. Dann wird die Arbeitsleistung weiter runtergehen. Ein angestellter Arzt wird niemals so viel leisten wie ein freiberuflicher tätiger Arzt oder Ärztin. Darüber gibt es genug Daten. Und wenn man die MVZ fördert und auf der anderen Seite die Freiberuflichkeit behindert, dann wird am Ende der Ressourcenmangel noch größer. Und Investoren geführte MVZ ziehen darüber hinaus auch noch Kapital aus unseren Sozialkassen.
Was sind denn die Gründe für Fehlinanspruchnahmen von Notdiensten?
Die Problematik ist zum einen sicherlich darin begründet, dass wir einen soziologischen Wandel haben. In unserer Informationsgesellschaft sind Information ungefiltert jedem zugänglich: Wenn man irgendein Symptom googelt, dann bleibt bei vielen Menschen Angst übrig, und der Großmutter wird definitiv weniger geglaubt als „Dr. Google“. Und diese Angst gilt es dann zu befrieden, und das führt oft zu einer Fehlinanspruchnahme von ärztlichen Leistungen und, oder provoziert diese.
Und was ist es noch?
Der Anspruch der Patienten wird über die Politik kolportiert. Nirgendwo auf der Welt konsultieren Patienten öfter den Arzt als in Deutschland. Da passiert es, dass ein Patient, der am Freitag vergessen hat, sich seine Medikamente verschreiben zu lassen und am Wochenende nach Malle fliegen will, dann samstags zum Notdienst geht - das kann nicht sein. Sicher gibt es neben den Gründen Angst und Unbekümmertheit auch diejenigen, die während der Woche keine Zeit haben oder die zu Fehleinschätzungen neigen.
Das wirft kein gutes Licht auf die Patienten....
Es ist ja nicht so, dass es überwiegend falsche Inanspruchnahmen gibt, im Gegenteil, die Mehrheit kommt sinnhafterweise. Ein Säugling, der fiebert, muss angeschaut werden. Da gibt es auch keine Debatten, das sollte am besten pädiatrisch angeschaut werden. Aber aufgrund der personellen Knappheit ist es nicht möglich, eine kinder- und jugendärztlichen Notdienst 24 / 7 aufrechtzuerhalten. Dann haben wir kein Personal mehr für die Praxen.
Könnte ein weiterer Grund für die Inanspruchnahme von Notdiensten sein, dass man regulär keinen Termin bei einem Arzt bekommt?
Ja, das ist mit ein Grund, da beißt sich sozusagen die Katze in den Schwanz: Wir haben relativ wenige Ressourcen, nicht jeder hat einen Kinder- und Jugendarzt oder Hausarzt und ist dann eben auf die Notdienste angewiesen. Und das sollte dann eben auch nicht mit einer Gebühr belegt werden. Aufgrund ständig wachsender Bürokratie schrumpft die Zeit, die wir für die Patienten da sein können, was eigentlich unsere Aufgabe wäre. Anstelle dessen muss ich einen Antrag auf ein Antragsformular stellen - das ist kein Witz.
Wie lange wartet man denn auf einen Termin in Schnitt?
Das hängt von der Struktur der Praxis ab und von der Art, wie die Praxis geführt ist. Ich kann das nur von meiner Seite sagen: Ich habe eine offene Sprechstunde. Denn meine Philosophie ist: Kinder werden nicht zum Termin krank. Die Patienten können kommen, wann sie das für richtig halten. Terminiert werden die Entwicklungsuntersuchungen, so gestreut, dass wir die Patienten, die kommen, der Reihe nach abarbeiten. Das Ganze funktioniert im Winter nicht so toll, weil es mehr Infekte gibt und die Wartezeit ins Unerträgliche steigt, so dass ich eine kleine Notbremse eingebaut habe: Wenn am Ende der Sprechzeit mehr als 20 Kinder da sind, dann macht die Annahme zu, und man kann zur nächsten Sprechzeit kommen. Andere haben fixe Terminsprechstunden.
Und gibt es dazu Erhebung, wie lange man auf einen Termin bei einem Kinderarzt warten muss, der eine fixe Terminsprechstunde hat? Wie lange wartet man da?
Offizielle Erhebungen kenne ich keine - aber die Klagen der Eltern sprechen für sich.
Gibt es noch andere Gründe für die Überlastung der Notdienste?
Der Punkt der Zweitmeinung: Die Eltern eines Kindes waren am Freitag beim Kollegen, der hat gesagt, das ist ein fieberhafter Virusinfekt. Am Samstag ist das Fieber noch da, und es könnte ja doch etwas anderes sein.
Wie könnte ein Verfahren konkret aussehen, um die Zahl der Fehlinanspruchnahmen von Notdiensten zu reduzieren?
Man könnte regeln, dass alle, die zum Notdienst möchten, erst einmal über eine Telefonnummer - die ja schon existiert, die 116 117 - gehen müssen. Wir gehen jetzt mal davon aus, dass sie technisch und personell funktionieren würde. Dann wird ein strukturiertes Abfragegespräch geführt: ein Triage-System, besser eine Ersteinschätzung. Ist der Patient grün, dann kann er warten, bis die Praxis wieder aufhat, ist er rot, dann gehört er ins Krankenhaus mit der 112 - das mal so als grobe Einteilung. Und wenn der Patient in die Kategorie gelb fällt, das heißt, er soll zum Notdienst, dann bekommt der einen Code. Und dieser Code ist die Eintrittskarte für den Notdienst.
Und dann gäbe es keine Fehlinanspruchnahmen mehr?
Dann hätten wir schon mal eine Struktur. Natürlich wird es nicht so sein, dass Patienten unangemeldet vor der Tür des Notdienstes stehen. Vielleicht könnten die Patienten, die ohne Code kommen, eben eine Gebühr zahlen, damit man sie nicht abweist. Der Patient hat die Möglichkeit, bei der Hotline anzurufen und zu erfahren, ob der Gang zum Notdienst richtig ist oder nicht. Und wenn er nicht bereit ist, anzurufen, dann muss er eben bezahlen. Das halte ich für eine mögliche Variante. Aber ausschließlich die Gebühr sehe ich nicht als zielführend. Aber das sind nur Beispiele. In einer konstruktiven Diskussion könnte man andere Regel aufstellen - nur so wie es, ist geht nicht.
Der, der an der 116 117 den Hörer abnimmt und per Telefonat die Situation des Patienten einschätzen muss, hat damit eine große Verantwortung, oder?
Das passiert täglich verantwortungsvoll von unseren MFAs in unseren Praxen, ja das ist eine große Herausforderung, dafür gibt es validierte Abfragesysteme. Mit geschultem Personal, und validierten Abfragesystemen hat man eine hohe Trefferquote. Und da gruppiert man eher eine Kategorie höher ein. Natürlich ist es so, dass der pfiffige Patient oder der Hypochonder relativ schnell rausfindet, was er sagen muss, damit er dahin kommt, wo er hinwill - aber da reden wir von Minderheiten, und das perfekte System wird es nicht geben.
Was raten Sie denn Eltern mit einem kranken Kind außerhalb der Sprechzeiten?
Erstmal die 116 117 anzurufen. Aktuell gibt es ja keine Patientensteuerung, die realisiert werden kann. Ansonsten die Notdienste nur dann in Anspruch zu nehmen, wenn es denn notwendig ist. Ein Windelpilz ist nicht unbedingt das, was man im Notdienst sehen will. Fieber ist etwas anderes, das ist abhängig vom Allgemeinzustand und weiteren Symptomen. Aber natürlich ist es nicht immer einfach, zu einer realistischen Einschätzung von Symptomen zu kommen. Deswegen wären neue Strukturen sinnvoll. Strukturen, die man neu definieren muss, die man ausprobieren muss, um zu schauen: Macht das Sinn? Und das hehre Ziel, das bei den knappen Ressourcen dahintersteht, ist, dass wir unsere Aufgaben noch wuppen. Aber so weitermachen? Das geht nicht. (Michelle Spillner)