Lage durch Corona noch dramatischer: Auch in Frankfurt leiden immer mehr Kinder an Übergewicht
Experten sehen eine dramatische Entwicklung rund um Bewegungsmangel und schlechte Ernährung bei Kindern und Jugendlichen, verstärkt durch Corona.
Frankfurt - Da ist zum Beispiel Alex (Name von der Redaktion geändert). Früher traf er sich gerne mit Freunden, um Basketball zu spielen. Doch dann kam die Pandemie. Und der heute 13-Jährige aus Frankfurt kann wochenlang weder in die Schule, noch auf den Sportplatz. Stattdessen vergräbt er sich zu Hause. Erlebt, wie sein großer Bruder an Corona erkrankt und als Long-Covid-Patient immer noch mit den Folgen zu kämpfen hat. Die Eltern, beruflich stark eingespannt, haben wenig Zeit für die Söhne. So ist Alex ausgerechnet zu Beginn der Pubertät mit seinen Sorgen und Nöten weitgehend allein. Trost findet er im Kühlschrank sowie in der Süßigkeiten-Schublade. Mit fatalen Folgen. Heute wiegt er etwa 85 Kilogramm, bei einer Größe von 1,70 Metern.
Kein Einzelfall, wissen Experten. Laut einer repräsentativen Eltern-Umfrage, die die Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) und das Else-Kröner-Fresenius-Zentrum (EKFZ) für Ernährungsmedizin an der Technischen Universität München vor einigen Monaten präsentiert haben, ist jedes sechste Kind in Deutschland seit Beginn der Corona-Pandemie dicker geworden. Fast die Hälfte bewegt sich außerdem weniger als vorher. Besonders beunruhigend ist die Entwicklung bei den Zehn- bis Zwölfjährigen: In dieser Gruppe hat demnach jedes dritte Kind an Gewicht zugelegt. „Das ist schon dramatisch“, sagt der Frankfurter Sportmediziner Winfried Banzer.
Zwischen Übergewischt und Magersucht: Essstörungen häufen sich in Corona-Pandemie
Auch Jutta Kolletzki kennt diese Zahlen nur zu gut. Die Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin ist Geschäftsführerin des Frankfurter Vereins Balance - Beratung und Therapie bei Essstörungen. In der Stadt ist der Verein der einzige Anbieter, der in der Beratung übergewichtiger Kinder und Jugendlicher tätig ist, wobei er mit dem Gesundheitsamt kooperiert.

Seit der Pandemie hätten sich deutlich mehr Betroffene gemeldet, sagt Kolletzki - nicht nur wegen Übergewicht beziehungsweise Adipositas, sondern auch wegen anderer Störungen wie Magersucht und Bulimie. Vor allem pubertierende Mädchen seien in den Corona-Jahren in eine verhängnisvolle Spirale aus Essanfällen, Übergewicht, strengen Diäten und exzessiver Körperkontrolle geraten.
Die Therapeutin verweist auf Befragungen, denen zufolge 70 Prozent der Unter-18-Jährigen während Corona mit stärkeren psychischen Belastungen wie Stress, Angst und Depressionen zu kämpfen hatten. Besonders schwierig sei es für Kinder wie Alex gewesen, die in dieser Phase am Beginn der Pubertät standen und denen die damit verbundenen Veränderungen ohnehin zu schaffen machten. Umso schlimmer war es für sie, dass sie in dieser Zeit kaum Kontakt mit Gleichaltrigen haben konnten. „Sie waren oft allein gelassen mit sich und dem Internet“, erklärt Kolletzki.
100 Kilo mit 10 Jahren: Sportmediziner aus Frankfurt schlägt Alarm
Dass etliche Kinder gerade in dieser Zeit dazu neigten, ihre Probleme mit dem Griff zu Chips, Schokolade und Co. zu kompensieren, ist für sie nicht überraschend. Essen bedeute schließlich Schutz, Genuss und Versorgung, sagt sie. Man spüre sich, verwöhne sich. Aber es könne eben auch ein „Runterschlucken und Zustopfen“ sein, eine Möglichkeit, sich zu beruhigen und andere Gefühle und Sorgen zu überdecken.
Die Folgen sind gravierend. Manche Jugendlichen, die sich hilfesuchend an Balance wendeten, wiegen inzwischen 140 Kilogramm und mehr, beschreibt Jutta Kolletzki.
Winfried Banzer erzählt von Zehnjährigen, die bereits 100 Kilogramm auf die Waage brächten und gar nicht mehr selbst aufstehen könnten. Er sieht einen klaren Zusammenhang zwischen Bewegungsmangel und Übergewicht. Die Pandemie mit ihren Begleiterscheinungen wie Einschränkung der Freizeitmöglichkeiten und zeitweise geschlossenen Sportanlagen sei hier wie „eine nicht geplante Feldstudie“ gewesen.
Zu wenig Bewegung: Kein alleiniges Problem der Corona-Pandemie
Das Problem: Auch nach der Pandemie bewege sich fast die Hälfte der Kinder weniger als zuvor. Vor allem bei denjenigen in Städten sei das zu beobachten, sorgt sich der Sportmediziner - hauptsächlich in Vierteln, die als sozial benachteiligt gelten: „Die hatten während der Pandemie schlechte Karten.“ Ein Grund dafür: Dort fehlt es häufig an Parks und anderen Freizeitanlagen. „Wer Zugang zu Grünflächen hat, hat mehr unternommen“, beschreibt Banzer. „Deshalb ist es ganz wichtig, Kindern und Jugendlichen unkomplizierten Zugang zu Grünflächen zu ermöglichen.“ Ebenso wichtig sei die Förderung von Vereinen, diese dienten schließlich als „zentrale, niedrigschwellige Anlaufstelle“, sagt er. Etwa durch den Bau von Sportstätten. Hilfreich seien außerdem Bewegungslandkarten, um Interessenten zu zeigen, wo welche Angebote zu finden sind, sowie ein runder Tisch zum Thema Bewegung, Ernährung und Gesundheit.
Beim Verein Balance versucht man übergewichtigen Kindern und Jugendlichen mit Beratungsgesprächen, aber auch mit Gruppenangeboten zu helfen, etwa mit Kochkursen und Bewegungsförderung. Was oft gar nicht so einfach sei, sagt Jutta Kolletzki. Denn: „Es ist eine sehr sensible, besondere Zielgruppe.“ Gerade Menschen, die Probleme rund um das Thema Essen hätten, ziehen sich aus Scham darüber häufig zurück. Diese Tendenzen hätten sich durch Corona noch verstärkt. Umso wichtiger sei es, schnell Unterstützung anbieten zu können, wenn Betroffene Hilfe suchen.
Verein Balance aus Frankfurt bietet Bewegungsförderung und Kochkurse für Jugendliche an
„Um die Bereitschaft, etwas zu ändern, gleich aufzunehmen“, sagt Kolletzki. Deshalb ist der Verein auch in mehreren Frankfurter Stadtteilen unterwegs, um Gesundheitsprojekte mit Kinder- und Jugendeinrichtungen umzusetzen. Doch das kostet Geld - ebenso wie die Beratungshotline zum Thema Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen, die ebenfalls auf dem Wunschzettel der Therapeutin steht. Drei Monate lang gab es dieses Angebot, „das wurde sehr gut angenommen“. Nun bemüht sich der Verein um Sondermittel, um das Vorhaben weiter zu finanzieren und so noch mehr Betroffenen helfen zu können.
Auch Alex ist inzwischen bei dem Frankfurter Verein gelandet und guten Mutes, mithilfe der Trainer und Berater Gewicht zu verlieren. Um so vielleicht beim Basketball bald wieder mit seinen Freunden mithalten zu können. (Brigitte Degelmann)