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Containern in Frankfurt: Auf nächtlicher Rettungstour im Müll

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Von: Florian Neuroth

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Annika sammelt genießbare Lebensmittel, die Supermärkte entsorgt haben. Bislang ist das illegal, doch das soll sich ändern.

Frankfurt – Still ist es auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt. Und dunkel. Straßenbeleuchtung gibt es hier, zwischen den mehrstöckigen Häuserzeilen, die den Platz umgeben, keine, und Einkäufer sind kurz vor Mitternacht freilich auch nicht mehr anzutreffen. Ein Fahrrad neben sich herschiebend geht Annika (Name von der Redaktion geändert) schnellen Schrittes in Richtung der Engstelle zwischen Marktseite und Bebauung. Hier liegt das Ziel der Studentin: die Abfallbehälter und aufgebahrten Plastikkisten des Lebensmittelgeschäfts, in denen die junge Frau zu nächtlicher Stunde nach weggeworfenen Lebensmitteln fahnden will.

Annika „containert“. Sie fischt noch genießbare, aber vom Handel wegen abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum, Druckstellen oder anderen Gründen aussortierte Produkte, aus dem Müll. „Lebensmittel retten“ nennen das die einen. „Mülltauchen“, etwas despektierlich, die anderen.

Die Studentin, Mitte 20, ihr exaktes Alter will sie nicht angeben, macht das bereits seit einigen Jahren. Eine Freundin hatte sie gefragt, ob sie mitkommen wolle, erinnert sie sich ans erste Mal. „Ich fand das spannend und die Idee gut“, sagt Annika. Schließlich wisse jeder, dass in Deutschland tagtäglich viel weggeworfen werde, was eigentlich noch verzehrbar sei. Überrascht war sie vom Premieren-„Tauchgang“ dennoch. „Da habe ich erst gemerkt, wie groß das Problem ist. Das kann man sich nicht vorstellen, wie viele noch gute Sachen in den Tonnen liegen“, erzählt sie.

Irgendwo in Frankfurt an einem Supermarkt: An den Containern angekommen, verschafft sich Annika immer erst einen Überblick, bevor sie im Müll nach noch verzehrfähigen Lebensmitteln fischt.
Irgendwo in Frankfurt an einem Supermarkt: An den Containern angekommen, verschafft sich Annika immer erst einen Überblick, bevor sie im Müll nach noch verzehrfähigen Lebensmitteln fischt. © Florian Neuroth

Lebensmittelverschwendung in Frankfurt reduzieren: Rund elf Millionen Tonnen Lebensmittelabfall

In der Tat ist die Menge der Lebensmittelabfälle in Deutschland enorm. Laut Bundeslandwirtschaftsministerium wurden im Jahr 2020 rund elf Millionen Tonnen Frischmasse entsorgt. Zwar entsteht der Großteil der Abfälle in privaten Haushalten (59 Prozent), der Handel ist aber für immerhin sieben Prozent (0,8 Millionen Tonnen) verantwortlich. Darunter auch viele Lebensmittel, die nicht verkauft wurden und deshalb in der Tonne landen.

Der ökologische Aspekt spielt für Annika eine Rolle. „Die Lebensmittel sind ja da. Warum also wegschmeißen, wenn ich sie noch essen kann?“, fragt sie. Und natürlich habe das Ganze auch eine finanzielle Seite. Was im Müll liegt, wird nicht bezahlt. Den Abfalltonnen kommt sie nun immer näher. „Achtung, gleich wird es hell“, warnt die Studentin. Wenige Sekunden später hat der Bewegungsmelder sie erfasst. Urplötzlich erstrahlt die Umgebung in grellem Licht. Aus der Ruhe bringen lässt sie sich davon ebenso wenig wie von den Rufen einer Frau, die von einem Fenster aus in ihre Richtung schallen. Ob die Anwohnerin die Gestalt vor den Containern meint? Unklar, der Wortlaut ist nicht zu verstehen. „Ich habe keine Angst“, sagt Annika.

Das mag erstaunen, denn tatsächlich macht sie sich gerade strafbar. Zumindest theoretisch. Auch Müll ist Eigentum, ihn zu entwenden kann als Diebstahl nach Paragraf 242 oder 243 Strafgesetzbuch („besonders schwerer Fall des Diebstahl“) gelten. Hinzu kommt oft Hausfriedensbruch (§ 123 StGB). Die Rechtslage bestätigte das Bundesverfassungsgericht erst 2020. Der Gesetzgeber dürfe grundsätzlich auch das Eigentum an wirtschaftlich wertlosen Sachen strafrechtlich schützen, sagten die Verfassungsrichter.

Statistiken zur Strafverfolgung gibt es in Frankfurt nicht. Sowohl die Polizei als auch die Amtsanwaltschaft erklären auf Anfrage, dass sie entsprechende Fälle nicht separat, also getrennt von anderen Diebstahlsdelikten, erfassen würden. „Allerdings sind bei unserer Pressestelle bislang keine Fälle im Zusammenhang mit Containern bekannt geworden. Offensichtlich handelt es sich um kein Phänomen, das aus polizeilicher Sicht in Frankfurt Relevanz hat“, sagt Polizei-Pressesprecher Marc Draschl.

Lebensmittelverschwendung in Frankfurt reduzieren: Bundesminister suchen fairen Kompromiss

Auch Annika wurde noch nie erwischt. Sie hat wie heute oft ein Rad dabei und stellt es direkt in Richtung des möglichen Fluchtwegs. „Wenn die Polizei kommt, fahr ich weg“, hatte sie bereits zu Beginn angekündigt. Ein schlechtes Gewissen hat sie nicht. „Ich überlege mir lieber, was ich für das Richtige halte, als mich an die Regeln zu halten. Wenn so viel Essen weggeworfen wird, ist das ein dummes Gesetz“, sagt sie.

Das sieht ein Großteil der Bundesbürger ähnlich. Laut einer jüngst veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey (10 011 Umfrageteilnehmer), die das Internetportal Web.de in Auftrag gegeben hatte, befürworten 79 Prozent der Deutschen eine Straffreiheit des Containerns. Ein klares Meinungsbild, das sich wohl bis ins Bundeskabinett herumgesprochen hat. So regten Justizminister Marco Buschmann (FDP) und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) unlängst an, unter bestimmten Voraussetzungen niemanden mehr dafür zu bestrafen, noch genießbare Lebensmittel aus der Tonne zu holen.

In einem gemeinsamen Schreiben an die Justizminister und -senatoren der Länder schlugen die Bundesminister eine Änderung der Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren vor. Demnach sollen die Bundesländer von einer Strafverfolgung absehen, wenn kein Hausfriedensbruch vorliegt, „der über die Überwindung eines physischen Hindernisses ohne Entfaltung eines wesentlichen Aufwands hinausgeht oder gleichzeitig den Tatbestand der Sachbeschädigung erfüllt“.

Heißt: Wer Tore aufhebelt und beschädigt, muss weiterhin mit einer Strafe rechnen. Eine Änderung des Strafrechts ist nicht geplant. Die Stadt Frankfurt begrüßt diesen Vorstoß. „Das ist ein wichtiger Schritt hin zu weniger Lebensmittelverschwendung und Ressourcenschonung“, heißt es aus dem Umweltdezernat. Allerdings brauche es weitere Schritte. Annika sieht es ähnlich. „Das ist nett, aber nicht genug“, meint sie und wünscht sich eine „gesetzliche Regelung wie in Frankreich, wo Supermärkte verpflichtet werden, noch genießbare Lebensmittel zu verteilen“.

Lebensmittelverschwendung in Frankfurt reduzieren: Einmal fand sie eine Tonne voll mit Joghurts

Fündig wird sie am ersten Markt diesmal nicht. Die Tonnen hinter dem stählernen Verschlag - „War offen“, sagt Annika, nachdem sie die Tür zu Seite geschoben hat - sind leer. „Das ist selten, gerade geleert“, vermutet sie. Mit dem Rad geht’s flugs zum nächsten Laden. In einer beleuchteten Ecke vor dem Notausgang stehen keine Tonnen, dafür mehrere kleine und große Plastikkisten. In zweien liegt eine bunte Auswahl verschiedener Gemüsesorten, die der Markt allem Anschein nach für nächtliche Besucher extra platziert hat. Alles etwas angedetscht und mit dunklen Stellen, aber nach ein wenig Schnippelarbeit ohne gesundheitliches Risiko genießbar, versichert Annika. Ein typischer Fund. „Viel Obst und Gemüse. Aber man kann eigentlich auf alles stoßen. Eier, Kartoffelpuffer, Brot, veganes Sushi ist ein Traum“, sagt sie. Einmal fischte sie 13 Kilogramm Kartoffeln aus dem Müll. Ein anderes Mal war die Tonne voll mit Fruchtjoghurts. Die habe sie alle eingepackt, obwohl sie sonst Veganerin ist. Annika erklärt: „Ich lebe freegan, konsumiere nur dann tierische Produkte, wenn sie dem wirtschaftlichen Kreislauf entzogen wurden.“

Ein vor zwei Tagen abgelaufenes Joghurt, einen vereinzelten Schokoriegel und einen Pudding, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum auf den 20. Februar terminiert ist, findet sie zwischen den Mülltüten in den Tonnen eines dritten Marktes. In der Gasse ist es stockfinster, Annika schaltet die Stirnlampe ein. Fix geht sie die Tonnen einmal durch, bevor die Sachen in die mitgebrachten Beutel wandern. „Ich verschaffe mir immer erst einen Überblick“, sagt sie. Schließlich könne sie nur eine begrenzte Menge mitnehmen.

Mit dabei ist ein Becher Grüne Soße. Noch bis Mitte Februar haltbar, aber die Außenhülle fehlt. „Das ist oft so. Die Sachen sind nicht alle abgelaufen oder schlecht. Wenn eine Zitrone schimmelt, werfen die Händler das ganze Netz weg“, sagt sie. Andere sehen das ähnlich. Viele Händler würden Lebensmittel oftmals mehrere Tage oder sogar bis zu einer Woche vor dem Mindesthaltbarkeitsdatum aus den Regalen nehmen, bemängelt die Verbraucherzentrale und auch aus dem Dezernat für Umwelt heißt es, dass in Supermärkten „viel zu häufig noch genießbare Lebensmittel weggeworfen“ werden.

Lebensmittelverschwendung in Frankfurt reduzieren: Beute kann sich sehen lassen

Die Branche kontert die Vorwürfe. Im Jahresschnitt verkauften ihre Märkte mindestens 98 Prozent der Lebensmittel, sagt Rewe-Pressesprecher Thomas Bonrath auf Anfrage. Lebensmittel, die nicht mehr verkauft, aber unbedenklich verzehrt werden können, gingen an die Tafel oder an Foodsharing-Initiativen. Generell würden Lebensmittel in der Regel nur dann zu Abfall, „wenn sie ihre spezifischen Eigenschaften stark eingebüßt haben, den gesetzlichen Hygienevorschriften nicht mehr genügen oder aus Gründen des vorbeugenden Verbraucherschutzes.“ Das Unternehmen gehört zu einem von 16 Betrieben, die im Jahr 2020 eine Beteiligungserklärung gegen Lebensmittelverschwendung unterzeichnet haben. In dieser verpflichten die Händler sich dazu noch verkehrsfähige Lebensmittel an soziale Einrichtungen weiterzugeben und Lebensmittelabfalldaten zu erfassen.

Inwieweit die Versprechungen erste Früchte tragen, kann in dieser Nacht nicht geklärt werden. Kiloweise Lebensmittel hat Annika nicht gefunden. In den meisten Tonnen befindet sich tatsächlich Abfall. Die Beute nach vier Märkten kann sich dennoch sehen lassen: Äpfel, Rosenkohl, Heidelbeeren, Radieschen, Joghurts und einen Beutel Kartoffeln trägt die junge Frau nach Hause. Ihren Kampf gegen die Verschwendung will sie nicht aufgeben und hat dafür sogar eine Kurzanleitung fürs „Containern“ auf einem DIN A4-Blatt angefertigt. Sie wolle ihr Wissen weitergeben, sagt sie. „Je mehr Leute sich auskennen, desto mehr Lebensmittel werden gerettet.“ (Florian Neuroth)

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