Bei Anruf spricht die Vergangenheit

Auf dem Paulsplatz können Besucher mit acht historischen Persönlichkeiten videotelefonieren
Leicht verwirrt nimmt Robert Blum die Augenbinde ab, die ihm sein Erschießungskommando bereits angelegt hat. „Guten Tag, Herr Blum“, sagt Frankfurts neuer OB Mike Josef (SPD), der in einer gelben Telefonzelle steht und den wohl berühmtesten Vertreter der ersten deutschen Nationalversammlung auf einem Videobildschirm beobachtet. „Ah, es ist mir eine besondere Ehre, dass ich Sie begrüßen kann“, antwortet Blum. Denn beide, ergibt sich aus dem anschließenden Gespräch, haben sich aus einfachen Verhältnissen hochgearbeitet, beide verstehen sich als Brückenbauer zwischen den Gesellschaftsschichten, beide streiten für Demokratie.
„Ein Rückblick aufs Leben, kurz bevor man stirbt - so würde doch auch eine Netflix-Serie anfangen“, sagt René Reinhardt, künstlerischer Leiter und Vorstand des Leipziger Theaters „The Cockpit Collective“, das mit fünf gelben Fernsprechern zum Paulskirchenfest kommt. Für jede der acht historischen Persönlichkeiten, mit denen man ab morgen in diesen Telefonzellen videotelefonieren kann, hat sich der Regisseur einen eigenen Einstieg ausgedacht. Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich etwa, die dafür bekannt war, dass sie die Patienten in ihrer Praxis im Westend immer persönlich von der Tür abholte, erwischt man, während sie gerade im Fahrstuhl feststeckt.
„Wir haben uns für Menschen entschieden, die die Gesellschaft vorangebracht haben, aber oft nicht greifbar und deshalb etwas vergessen sind“, sagt Reinhardt. Sieben von ihnen plus Goethe, der sowohl in Leipzig als auch in Frankfurt gewirkt hat. Nicht nur durch ihn sind die beiden Städte verbunden, sondern seit 1990 auch durch eine Städtepartnerschaft. „Außerdem einen Frankfurt als Stadt der deutschen Revolution 1948 und Leipzig als Stadt der friedlichen Revolution 1989 auch die gemeinsamen Werte wie Demokratie, Freiheits- und Menschenrechte“, sagt Josef. „Deshalb war es für uns Ehrensache, dabei zu sein“, ergänzt Marit Schulz von der Leipzig Tourismus und Marketing GmbH, bevor sich beide Robert Blum zuwenden.
In dessen Kostüm steckt der Leipziger Kabarettist Meigl Hoffmann, der bereits als Kind mit Blum in Berührung kam: „Meine Großmutter hat immer gesagt: ,Ich kann heute nicht, ich bin erschossen wie Robert Blum.‘“ Außerdem habe ihn sein Arbeitsweg lange über die Reste des Theaters geführt, an dem Blum ab 1832 Sekretär und Kassierer war.
„Manchmal staunt man über sich selbst“
Er habe sich intensiv in die Rolle eingearbeitet, sagt Hoffmann, seine Angst, dass er nicht wissen könnte, was Robert Blum antworten würde, sei deshalb überschaubar. „Es gelingt zwar nicht immer, schlagfertig zu sein, aber manchmal staunt man auch über sich selbst.“ Nicht einmal ein Reichsbürger am Videotelefon könnte ihn schrecken. „Offen geführte Kontroversen sind in einer Demokratie sehr wichtig. Und wenn es mir im Gespräch gelingt, ein Korn des Zweifels zu säen, ist schon viel gewonnen.“
Die Idee zu den Fernsprechern entstand aus dem Wunsch heraus, Theaterformate zu entwickeln, die mehr Interaktion zwischen Schauspielern und Zuschauern ermöglichen, sagt Reinhardt. „Dann kam Corona und alle hatten nur noch Zoom-Konferenzen. Also haben wir gesagt, das machen wir auch.“ Die Schauspieler traten als Persönlichkeiten vor die Bildschirme, die ebenfalls mit Krisen zu kämpfen hatten, und sie kreativ meisterten. So sieht Hoffmann auch das Wirken Blums. „Wir haben unsere Ziele damals zwar nicht verwirklicht“, sagt er zu Josef. „Aber wir waren zumindest der Türöffner dafür, dass Sie heute in dieser Telefonzelle stehen und wir die Demokratie gemeinsam feiern können.“ Sarah Bernhard
Bei Anruf Demokratie
Die Telefonzellen sind von morgen bis Samstag von 13 bis 21 Uhr und am Sonntag von 11 bis 18 Uhr geöffnet. Tauscht man bei einer der anwesenden Kustodinnen 50 Cent in eine Marke um, sind 15-minütige Gespräche mit Fritz Bauer, Margarete Mitscherlich, Irmtraud Morgner, Clara Schumann, Gerda Taro, Bruno Vogel, Goethe und eben Robert Blum möglich. Die Zuteilung erfolgt zufällig.