Bilder, die alles Leid erzählen

Fotograf Boris Roessler war ein zweites Mal im Erdbebengebiet im Südosten der Türkei.
Frankfurt -Es gibt Bilder, die keiner Worte bedürfen. Weil sie alles Leid erzählen. Solche Bilder aus dem Erdbebengebiet im Südosten der Türkei hat Boris Roessler in Fotos festgehalten. Der Frankfurter Fotograf der Deutschen Presse-Agentur (DPA) ist gerade zurückgekehrt von seinem zweiten Einsatz in dem Katastrophengebiet. Zum ersten Mal war er direkt nach dem verheerenden Unglück im Februar nach Adana, Antakya und die weitere Umgebung gefahren, in damals noch unübersichtlicher Lage (wir berichteten). Nun, etwa drei Monate später, wollte Roessler sich erneut ein Bild machen von dem, was das Beben, dem mehr als 52 000 Menschen zum Opfer fielen, mit dem Landstrich und den Überlebenden gemacht hat. Es wurden viele hundert Bilder. Rund 150 von diesen sendete die DPA an Redaktionen im In- und Ausland.
Es herrscht gespenstische Leere
Boris Roessler berichtet von gespenstischer Leere, die in vielen Städten herrsche, wo ganze Stadtteile, Straßenzüge dem Erdboden gleich sind - und davon, dass die Erde immer noch bebt. Vielfach sei der Schutt eingestürzter Häuser schon weggeräumt. Zurückgeblieben sei Ödnis und Brache. „Man sieht dort, wo früher Leben auf den Straßen war, wo Tausende Menschen unterwegs waren, keine Menschenseele“, so Roessler. 164 000 Gebäude im Katastrophengebiet sind nach offiziellen Angaben eingestürzt oder so massiv beschädigt, dass sie abgerissen werden müssen. Es waren zumeist Wohnhäuser, die das Beben in Schutt und Asche gelegt hat. Viele der Menschen, die sich beizeiten aus ihnen retten konnten und nun obdachlos sind, leben nun in Zelten.
Überwältigende Gastfreundschaft
Boris Roessler geht dahin, wo er diese Menschen trifft - und berichtet von deren überwältigender Gastfreundschaft. Er, der Fremde, sei wie selbstverständlich zum Tee eingeladen worden. Kekse, vom Zuckerfest am Ende des Ramadan noch übrig geblieben, habe man mit ihm geteilt. Über das schreckliche Beben, über die Familienmitglieder, die Nahestehenden, die sie für immer verloren haben, hätten viele in den Flüchtlingszelten nicht reden können. „Die Menschen sind traumatisiert“, so Roessler. Er fotografiert Olivenhaine nach Antakya, durch die das Beben eine gigantische Schneise der Verwüstung geschlagen hat.
Er fängt den Augenblick ein, als eine Familie wie verloren über ein Trümmerfeld läuft. Die Erde im Bebengebiet ist immer noch nicht zur Ruhe gekommen. „Viele reagierten mit Gleichmut“, berichtet Roessler. „Es hieß dann immer: Das ist weit weg.“
Ganz nahe ist dann plötzlich das Bild einer jungen Frau mit einem Baby auf dem Arm. Die Frau steht inmitten frischer Gräber. Es ist der Friedhof in Kahramanmaras. 6000 Todesopfern musste dort auf die Schnelle die letzte Ruhestätte bereitet werden. Die Frau mit dem Baby auf dem Arm steht inmitten dieser Begräbnisstellen. Aus der Distanz hat Boris Roessler den Moment ihrer stummen Trauer und Verlorenheit in einem anrührenden Foto eingefangen - eines von denen, das um die Welt ging.
Saadet kann noch immer nicht wieder lachen
Große Aufmerksamkeit in den Redaktionen hatte auch das Foto des Mädchens Saadet gefunden, das seit dem Erdbeben nicht mehr sprach. Roessler hatte sie und ihren Bruder im Februar in einer Kinderklinik getroffen. Das Porträt von dem zehnjährigen Mädchen mit den traurigsten Augen der Welt wurde von vielen Zeitungen gedruckt. Boris Roessler hat Sadeet wiedergetroffen. „Das war einer der vielleicht emotionalsten Momente dieser zweiten Reise“, sagt Roessler. Als er die Familie wiedersah, bereitete sie sich gerade auf den elften Geburtstag des Mädchens vor. Es war ihr erster Geburtstag ohne die Mutter, die im Februar unter einem herabstürzenden Dach zu Tode gekommen war. Die beiden Kinder und deren Vater überlebten verletzt. Saadet ist äußerlich gezeichnet von dem Unglück. Eine tiefe Wunde in ihrem Gesicht ist geheilt, eine Narbe geblieben. Drei Operationen hat das Kind hinter sich, weitere stehen ihr wohl noch bevor. Ihr Lachen, sagt Roessler, hat sie noch nicht wiedergefunden.
Kolossaler Zweckoptimismus
Was wird aus den Menschen? Diese Frage, sagt Boris Roessler, stelle er sich. Auch noch nach seiner Rückkehr nach Frankfurt, wo er mit seiner Familie lebt. Er habe im türkischen Erdbebengebiet so viele Menschen getroffen, die mutlos geworden seien angesichts der gigantischen Zerstörung und fehlender persönlicher Perspektiven für sich selbst, mit dem anhaltenden Chaos zurechtzukommen. Und auch das Gegenteil habe er erlebt: Menschen mit kolossalem Zweckoptimismus. „Sie sagen: Das war das große Beben, jetzt ist es vorbei. Für immer.“ Kann sein, er fährt noch einmal hin, in ein paar Monaten oder später.








