Bundespräsident fordert auf: Demokratie schätzen und schützen

Festakt und Bürgerfest in Frankfurt würdigen das 175-jährige Jubiläum der Nationalversammlung von 1848
Frankfurt -Vor 175 Jahren, am 18. Mai 1848, trat die deutsche Nationalversammlung erstmals in der Frankfurter Paulskirche zusammen. Ihre Aufgabe war groß: Eine Verfassung für ganz Deutschland, für einen Nationalstaat sollte sie erarbeiten. Nicht nur Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat gestern am historischen Ort vor 600 geladenen Gästen das Erbe von Revolution und Paulskirchenparlament gewürdigt.
In seiner Rede hielt Steinmeier ein Plädoyer für die demokratischen Prozesse, für die Teilhabe der Bürger. „Das Recht zu wählen wurde mit dem Einsatz des Lebens erkämpft.“ Die Jahre 1848/49 seien schwierige Lehrjahre der Demokratie gewesen, sagte Steinmeier. Die Herausforderungen, vor denen die Abgeordneten standen, waren enorm. 585 Abgeordnete aus 35 deutschen Staaten und vier freien Städten hatten eine gemeinsame Verfassung errungen. Eine moderne Verfassung, die jedoch nie in Kraft getreten ist.
Kein Schwarz-Rot-Gold für Nationalismus
Schon damals, so Steinmeier, seien jene Gegenkräfte hervorgerufen worden, die die Parlamente, die Freiheit, die Demokratie auch heute noch vor große Herausforderungen stellen. „Ein Populismus, der die Institutionen verachtet und den vermeintlich wahren Volkswillen allein für sich reklamiert.“ Der Bundespräsident wandte sich ausdrücklich gegen die Instrumentalisierung des Erbes der Nationalversammlung und der Revolution von 1848 durch diejenigen, die mit deren Werten nichts gemeinsam haben: „Auf Schwarz-Rot-Gold kann sich deshalb heute nicht berufen, wer neuen Nationalismus schürt und autoritäres Denken propagiert. Wer unsere Demokratie verachtet, hat kein Recht auf Schwarz-Rot-Gold.“
Steinmeier appellierte zudem an alle Menschen in diesem Land und in Europa, sich für die Freiheit aller Völker einzusetzen. Angesichts des verbrecherischen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine müssten Demokraten den angegriffenen Menschen helfen. „Wenn irgendwo Freiheit und Selbstbestimmung bedroht oder angegriffen werden, werden alle freien Menschen und Völker bedroht.“
Auch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) betonte, dass das Ringen um Freiheit nicht zu Ende sei. „Unsere parlamentarische Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Es braucht engagierte Bürger, die etwas verändern wollen“, sagte sie. Wenn mit Lügen und Hass Grundwerte untergraben und wenn Politiker attackiert würden, sei die Demokratie in Gefahr.
Eine weitere Gefahr für die Demokratie benannte der Hessische Ministerpräsident Boris Rhein: „Das Leben in Freiheit und Demokratie ist wenig selbstverständlich. Für viele Völker ist dies der pure Luxus. Früher haben die Menschen darum gekämpft, wählen zu dürfen - heute müssen wir dafür kämpfen, dass Bürger wählen gehen.“ Gleichgültigkeit sei toxisch, sei letal. „Sie ist eine der größten Gefahren der Demokratie“, warnte Rhein. Es sei „richtig und wichtig“, dass das Jubiläum der Paulskirche nicht nur mit einem Festakt, sondern auch mit einem Bürgerfest gefeiert werde, sagte der Landesvater.
An das Scheitern der Paulskirchenversammlung erinnerte der Frankfurter Oberbürgermeister Mike Josef (SPD): „Die 1848er haben die Freiheit und die Demokratie verspielt“, sagte er. „Ein solches Scheiten darf uns nie mehr passieren.“ Die Frankfurter Stadtverordnetenvorsteherin Hilime Arslaner (Grüne) nutze den Festakt für einen Appell: „Seien wir mutig. Seien wir großzügig. Teilen wir unsere Demokratie mit den Menschen, die in unseren Städten und Gemeinden leben“, sagte sie und forderte ein kommunales Wahlrecht auch für die Ausländer ohne EU-Pass, die seit längerem in Deutschland leben.
Ja, das Wahlrecht. Auch Frauen hatten bis 1919 keines. Daran erinnerte auch Bärbel Bas, indem sie betonte, dass es jene Frauen von 1848 waren, die anfingen, sich zu beteiligen, für Gleichberechtigung zu kämpfen. „Ohne sie säßen wir wahrscheinlich heute noch auf der Damengalerie“ in den Parlamenten. Das Publikum lachte.
Als die Nationalhymne auf der Orgel erklingt, ist das Ende des Festakts eingeläutet. Einigkeit und Recht und Freiheit. Jetzt auf dem Bürgerfest, das noch bis einschließlich Sonntag in Frankfurt gefeiert wird.
Kommentar: Wenn die Mehrheit schweigt, ist die Demokratie in Gefahr
Sommer 1848. Die Demokratie in Deutschland ist ein zartes Pflänzchen. Das Paulskirchenparlament tagt erst seit wenigen Wochen, da dichtet Georg Herwegh aus seinem Pariser Exil: „Im Parla- Parla- Parlament / Das Reden nimmt kein End’! / (...) Zu Frankfurt an dem Main - / So schlag der Teufel drein! / Es steht die Welt in Flammen / Sie schwatzen noch zusammen, / (...) Dein Parla- Parla- Parlament / O Volk, mach ihm ein End’!“ Es sind satirische Worte voller Häme, die der Lyriker für das erste gesamtdeutsche Parlament übrig hat. Viel erwartet er nicht. Freilich konnte der revolutionäre Dichter nicht ahnen, welche Saat er da sät, welch abstoßendes Echo seiner Zeilen durch die weitere deutsche Geschichte hallen wird.
Oswald Spengler, geistiger Wegbereiter des Nationalsozialismus, bezeichnet die Nationalversammlung als „Quasselbude“. Auch „Schwatzbude“ ist beliebt. Vor allem bei rechten Demokratieverächtern. Der Misserfolg dieses Parlaments wird von den Nationalsozialisten als Argument gegen die Bürgerrechte der Weimarer Verfassung missbraucht: „Die reden doch nur, und dafür werden sie auch noch bezahlt.“ Ein Satz, auch heute - 175 Jahre nach dem Aufbruch zur Demokratie - nicht nur an Stammtischen zu hören.
Ja, das Paulskirchenparlament ist gescheitert. Aber nicht daran, dass es eine „Quasselbude“ war. Die reaktionären Kräfte waren stark, das Parlament uneins, die Liberalen hatten nicht genug Mut, der Monarchie zu entsagen und auf Basis der Volkssouveränität eine Republik zu wagen. Gleichzeitig stoppten sie die Revolution, wo ihre bürgerlichen Rechte errungen waren, ohne Rücksicht auf die Forderungen der Handwerker, Bauern, Arbeiter.
Vielleicht hatten sie auch Angst vor dem, was sie da geschaffen hatten. Denn das war großartig. 585 Abgeordnete aus 35 deutschen Staaten und vier freien Städten hatten um eine gemeinsame Verfassung gerungen - ein Unterfangen, ähnlich schwierig wie heute die europäische Einheit. Und am Ende einigte sich das Parlament auf eine der damals fortschrittlichsten, liberalsten und demokratischsten Verfassungen der Welt. Erstmals bildeten Freiheit und Gleichheit das Fundament einer deutschen Staats- und Gesellschaftsordnung - diese Erklärung hatte eine enorme Wirkung auf ihre Zeitgenossen. So sahen sich die Regierungen nach dem Scheitern doch gezwungen, eigene Verfassungen zu erarbeiten und einige Reformen beizubehalten. Auch wenn Freiheit und Gleichheit erst mal nicht mehr dabei vorkamen. Ihr Ziel hatte die Nationalversammlung verfehlt - und doch war der Anfang gemacht.
175 Jahre später stehen wir in einem freiheitlichen, demokratischen, geeinten Deutschland vor ganz anderen Fragen als die Paulskirchenväter von 1848. Die Zweifel an Demokratie, am Parlamentarismus, an sozialer Marktwirtschaft nehmen bei einer Zahl von Menschen zu, die zwar nach wie vor eine Minderheit sind, aber empfänglich für demagogische Schreihälse. Geradezu erschreckend ist es, wie viele das Vertrauen in die Lösungskompetenz des Staates allein in den Pandemie-Jahren verloren haben. Wir leben nicht mehr im Wirtschaftswunderland, für das wir so oft beneidet worden sind. Wir haben die Finanzkrise hinter uns, haben Zigtausende Flüchtlinge aufgenommen, stecken in der Klima-Krise fest und sollen uns nun auch noch energetisch umstellen. Das nagt an der Wohlstandsgesellschaft. Daran trägt auch die Politik auf kommunaler, auf Landes- und auf Bundesebene Schuld. Doch nicht allein. Jeder Einzelne von uns ist gefragt. Denn genau das heißt Demokratie: Volksherrschaft.
Eine Minderheit in diesem Land wählt mit der AfD stramm rechts. Einer Partei, die mit Populismus und Parolen die parlamentarische Demokratie bekämpft. Einer Partei, deren Jugendorganisation jüngst vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft worden ist. Wer meint, er müsse eine solche Partei wählen, hat nichts aus der Geschichte gelernt. Wer mit ihr aus Unzufriedenheit flirtet, macht sich mit ihr gemein. Doch Demokratie hält das - hoffentlich - aus. Sie ist nach wie vor die klügste Staatsform. Sie gibt auch ihren Gegnern Raum. Von links wie von rechts -und auch aus der Mitte heraus. In einer Demokratie darf man schließlich auch sagen, dass man nichts mehr sagen darf.
Bedrohlicher für eine Demokratie wird es, wenn die Menschen nichts mehr sagen wollen - und es damit den Schreihälsen und Populisten überlassen. Von den knapp 85 Millionen, die in Deutschland leben, ist es - da müssen wir uns nichts vormachen - die Mehrheit. Biedermeieresk agiert sie in ihrer Blase und interessiert sich nicht dafür, was im Land passiert. Beteiligt sich nicht, bleibt politisch passiv. Das ist der Punkt, an dem jeder Einzelne von uns ansetzen, sich vielleicht sogar an die eigene Nase fassen muss. Ein Volk, dass nicht herrschen will, verspielt seine Zukunft. In Freiheit. In Einheit. In Demokratie.