Beinahe-Zusammenstöße von Flugzeugen: Wie oft es in Deutschland dazu kommt
Nach Corona steigt die Zahl der Flüge in Deutschland wieder an – und in der Luft wird es enger. In den USA kommt es fast täglich zu Beinahe-Zusammenstößen. Und in Deutschland?
Frankfurt – Der Flughafen Frankfurt boomt wieder: Im Juli 2023 gab es erstmals seit der Corona-Pandemie wieder mehr als sechs Millionen Fluggäste. 40.626 Flugbewegungen gab es. Anders ausgedrückt: Am Himmel in der Rhein-Main-Region ist wieder viel Verkehr – und der Platz am Himmel wird immer knapper.
Das steigende Verkehrsaufkommen in der Luft birgt auch Risiken. Das zeigt eine Recherche der New York Times von Ende August. Die US-amerikanische Zeitung hat Meldungen zu „Close Calls“ ausgewertet, also Situationen, in denen sich Flugzeuge in der Luft oder am Boden gefährlich nahekommen. Die Erkenntnis des Artikels: Diese Beinahe-Zusammenstöße kommen deutlich häufiger vor als erwartet.
Gefahr von Flugzeugzusammenstößen fast täglich in den USA ein Problem
Allein im Juli 2023 – dem Post-Corona Rekordmonat des Frankfurter Flughafens – gab es in den USA laut Zahlen der Luftfahrtbehörde FAA 46 gefährliche Situationen. Am 2. Juli sei es in New Orleans beinahe zu einem Zusammenstoß gekommen, als ein Flugzeug der Southwest Airlines eine Landung abbrechen musste, weil eine andere Maschine sich auf der selben Rollbahn gerade zum Starten bereit machte. Mehrmals pro Woche komme es zu solchen gefährlichen Situationen, schreibt die NY Times.

Laut einer Datenbank, die Angaben von Piloten, Lotsen und weiteren Beschäftigten der Luftfahrt bündelt, habe es innerhalb von zwölf Monaten fast 300 „Close Calls“ gegeben. Die meisten Beinahe-Zusammenstöße zwischen Flugzeugen kommen laut NY Times - wenig überraschend - in der Nähe von Flughäfen vor. Zur Einordnung: Die Daten beziehen sich auf die USA.
Deutsche Luftsicherung wertet Fälle mit zu geringem Abstand zwischen Flugzeugen aus
Aber wie ist die Lage in Deutschland? Die Absicherung des Flugverkehrs sowie den internationalen Airports wie dem Flughafen Frankfurt übernimmt die Deutsche Flugsicherung (DFS) mit Hauptsitz in Langen. Die DFS registriert gefährliche Situationen zwischen Flugzeugen in der Luft und auf Start- und Landebahnen und wertet sie aus. Zudem gibt es die beim Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung angesiedelte Aircraft Proximity Evaluation Group (APEG). Die APEG ist ein unabhängiges Expertengremium, das ebenfalls die Fälle untersucht, um die Sicherheit der Luftfahrt in Deutschland zu bewerten und aufrechtzuerhalten.
Was die NY Times pauschal als „Close Calls“ bezeichnet, bezeichnet die Flugsicherung als Staffelungsunterschreitungen, also gefährliche Annäherungen in der Luft, und „Runway Incursions“ (Landebahnverletzungen) am Boden. Die DFS veröffentlicht Statistiken zu diesen gefährlichen Situationen. Auch die APEG veröffentlicht Berichte.
Was sind Staffelunterschreitungen und Landebahnverletzungen?
In der Luft müssen Flugzeuge vertikal mindestens 300 Meter voneinander entfernt sein. Der horizontale Abstand hängt von der Größe des Fliegers sowie der Phase des Flugs ab und beträgt zwischen drei und acht nautischen Meilen, was etwa 5,6 bis 14,8 Kilometern entspricht. Wenn ein Flugzeug die Mindestabstände unterschreitet, handelt es sich um eine Staffelunterschreitung.
Um jedes Flugzeug gibt es bei Start und Landung einen festgelegten Sicherheitsbereich, in den andere Flugzeuge, Fahrzeuge oder Menschen nicht eindringen dürfen. Bei einer Runway Incursion wird dieser Sicherheitsbereich verletzt.
Fast 200 Mal kamen sich 2022 Flugzeuge in Deutschland in der Luft zu nah
2022 gab es nach den Daten der Flugsicherung insgesamt 273 Vorfälle. Darunter 199 Staffelunterschreitungen. Die Zahl ist damit, wie die Anzahl der Flüge auch, im Vergleich zu 2021 angestiegen, als es 97 Staffelunterschreitungen und 75 Runway Incursions gab. Die Zahlen liegen also noch unter den 300 „Close Calls“.
Vergleichbar sind die Zahlen jedoch nicht. „Auch bei minimalen Abweichungen – zum Beispiel, wenn statt fünf nautischen Meilen Abstand (9,26 Kilometer) nur 4,9 nautische Meilen (also 9,07 Kilometer) vorliegen – wird dies als Unterschreitung festgehalten“, erklärte eine Sprecherin der Flugsicherung gegenüber FNP.de von IPPEN.MEDIA.
So verhält es sich auch mit Runway Incursions. „Auch hier gibt es Ereignisse, an denen ein Flugzeug nicht an einem vorgesehenen Haltepunkt angehalten hat, sondern geringfügig weitergerollt ist.“ Auch wenn sich durch die Annäherung keine konkrete Kollisionsgefahr ergibt, dokumentiert das Unternehmen den Vorfall.
13 Fälle mit hoher Gefahr eines Flugzeugzusammenstoßes in der Luft im Jahr 2021
Die Einstufung der gefährlichen Situationen in der Luftfahrt übernimmt die APEG. Das Expertengremium, dem unter anderem Vertreter der Gewerkschaft der Flugsicherung, der Pilotengewerkschaft Cockpit und Fluggesellschaften angehören, vergibt vier Schweregrade.
- A – Kollisionsgefahr: Bei der Situation hat eine ernste Gefahr einer Kollision bestanden
- B – Sicherheit nicht gewährleistet: Die Sicherheit eines Luftfahrzeugs könnte beeinträchtigt gewesen sein
- C – keine Kollisionsgefahr: Es gab keine Gefahr eines Zusammenstoßes
- D – Gefahr nicht bestimmt: Es gab zu wenig Informationen, um das Risiko einordnen zu können
2021 gab es 13 Fälle, die der APEG gemeldet wurden, bei welchen die Experten tatsächlich von einer hohen Kollisionsgefahr ausgegangen sind. Die DFS selbst schlüsselt die Schwere der Runway Incursions und Annäherungen in der Luft für die Fälle auf, für die Lotsen ein „beitragender Faktor“ sind. 2022 gab es demnach keine ernsten Vorfälle. 2021 einen, als ein Pilot am Flughafen Stuttgart auf die Startbahn gerollt ist, während sich ein anderes Flugzeug im Anflug befand, das die Landung abgebrochen hat.
Experten beschreiben Situation am Flughafen Frankfurt – und stufen Gefahr eines Zusammenstoßes von Flugzeugen ein
Zum Flughafen Frankfurt findet sich der letzte von der APEG beschriebene Vorfall einer risikoreichen Annäherung im Bericht von 2020. 2019 sei ein Kleinflugzeug vom Flughafen Mainz-Finthen gestartet und über die zulässige Höhe hinaus gestiegen. Dadurch musste eine Boeing im Anflug auf den Flughafen Frankfurt nach oben ausweichen. Der Abstand betrug laut Bericht noch 0,8 nautische Meilen, also 1,4 Kilometer. Der Airliner konnte trotz Ausweichmanöver regulär landen. Danach setzte der Pilot des Kleinflugzeugs seinen Steigflug fort, änderte jedoch seinen Kurs nach Süden. Dabei kreuzte er die Anfluglinie auf die zweite Landebahn des Frankfurter Flughafen. Dort war eine weitere Maschine in gleicher Flughöhe im Anflug. Ein Lotse orderte das Verkehrsflugzeug zu steigen und den Kurs zu ändern. Beide Flugzeuge waren dabei noch 1,5 nautische Meilen (etwa 2,7 Kilometer) voneinander entfernt. Die Fachleute stuften das Risiko mit der Kategorie C ein. Die Gefahr eines Zusammenstoßes bestand dabei also nicht.
Angesichts von knapp 2,6 Millionen kontrollierten Flügen in Deutschland 2022 sind diese Zahlen verschwindend gering. Solche Situationen bleiben damit eher eine Ausnahme.
Was sind die Ursachen für der Beinahe-Zusammenstöße von Flugzeugen?
Zurück in die USA: Piloten und Lotsen in den USA warnen laut NY Times vor wachsenden Lücken im Sicherheitssystem. Als Hauptproblem seien überarbeitete Lotsen, die mit Zeitdruck, Müdigkeit und dem hohen Verkehrsaufkommen zu kämpfen hätten. Als Ursache nennen die Fachleute Personalmangel bei der Flugsicherung.
Auch die Deutsche Flugsicherung hat Probleme dabei, offene Stellen zu besetzen. Was die Arbeitsbelastung angeht, haben die Lotsen jedoch keine Probleme. Was Arbeits- und Ruhezeiten, Pausen und die Planung angehe, hätten die deutschen Lotsen europaweit mit die besten Arbeitsbedingungen, erklärte ein Sprecher der Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) auf Anfrage von FNP.de von IPPEN.MEDIA.
Ein Faktor könnte dabei auch die Belastung der Piloten sein. Bei einer Ende August 2023 veröffentlichten Studie des europäischen Pilotenverbandes ECA gaben drei von vier Piloten an, kürzlich mindestens einen Sekundenschlaf während eines Fluges erlebt zu haben. Ein Viertel davon berichtete dabei von fünf oder mehr solchen Situationen, teilte die deutsche Gewerkschaft Vereinigung Cockpit mit. Eine verlängerte Dienstzeit sowie zu kurze Ruhezeiten zwischen Flügen seien ein Problem.
Deutsche Flugsicherung sieht erhöhte Zahl von Flugzeugen als Herausforderung
„Der Bericht hat uns noch einmal klar vor Augen geführt, dass die Belastungen der Pilotinnen und Piloten in Spitzenzeiten oftmals über das sicherheitsverträgliche Maß hinaus gehen“, zitiert die Vereinigung Cockpit ihren Präsidenten Stefan Herth in einer Mitteilung. IPPEN.MEDIA-Nachfragen, welche Rolle das Problem bei „Close Calls“ und Beinahe-Zusammenstößen zwischen Flugzeugen spielt, ließ die Pilotengewerkschaft unbeantwortet. Auch die Lufthansa als größte deutsche Fluggesellschaft wollte sich nicht äußern.
Die Deutsche Flugsicherung nennt das erhöhte Flugaufkommen als eine Herausforderung bei der Sicherheit beim Fliegen. Nach dem Tief während der Corona-Pandemie sei die Zahl der Flüge inzwischen phasenweise höher als vor der Krise. Mit der Verkehrszahl steige damit auch die Zahl der Staffelunterschreitungen. Es ist jedoch – auch bei den Fällen mit geringem Risiko – ein sehr kleiner Teil aller Flüge. (Max Schäfer)