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„Die entscheidende Frage ist: Wer hat hier versagt?“

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Ende September geht Georg Schulze, gelernter Krankenpfleger, in Rente. Nach Jahren als Intensivpfleger wechselte er 1991 zur Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), die später in Verdi aufging. Seit 2008 ist er im Verdi-Bezirk Hessen Fachbereichsleiter für Gesundheit und Soziale Dienste, seit zwei Jahren zusätzlich für Bildung und Wissenschaft. FOTO: michael Faust
Ende September geht Georg Schulze, gelernter Krankenpfleger, in Rente. Nach Jahren als Intensivpfleger wechselte er 1991 zur Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), die später in Verdi aufging. Seit 2008 ist er im Verdi-Bezirk Hessen Fachbereichsleiter für Gesundheit und Soziale Dienste, seit zwei Jahren zusätzlich für Bildung und Wissenschaft. © Michael Faust

Georg Schulze von Verdi Hessen zur geplanten Krankenhausreform und den Vorgängen im Varisano-Klinikverbund

Weil sie um die Zukunft der Gesundheitsversorgung bangen, haben mehrere Organisationen vor kurzem gemeinsam das „Bündnis für eine sichere Gesundheitsversorgung im Main-Taunus-Kreis und Frankfurter Westen“ gegründet. Einer der Erstunterzeichner war Georg Schulze, der beim Verdi-Landesbezirk Hessen unter anderem den Fachbereich Gesundheit leitet. Mit Redakteurin Sarah Bernhard sprach er über die Auswirkungen der geplanten Krankenhausreform, die Probleme des Varisano-Klinikverbundes und die verwirrende Frage, wie es dort zu einem Fehlbetrag von mehr als 90 Millionen Euro kommen konnte.

Herr Schulze, das gesamte deutsche Gesundheitssystem ächzt unter den Veränderungen, die die Corona-Pandemie mit sich gebracht hat. Sind es diese allgemeinen Probleme, die Varisano in die Verschuldung getrieben haben oder ist noch mehr schiefgelaufen?

Es ist eine Kombination aus beidem. Der Frankfurter Magistrat schrieb in seiner Vorlage Anfang Juli von einem Finanzbedarf von 90,5 Millionen für die kommenden beiden Jahre. Gemessen an den Leistungen, die Varisano erbringt, liegt dieser Betrag deutlich über dem vergleichbarer Kliniken.

Warum ist das so?

Zunächst kurz zu den Problemen, die alle Krankenhäuser haben. Um die Kliniken während der Pandemie zu entlasten, mussten die Krankenkassen Rechnungen innerhalb von fünf Tagen bezahlen. Diese Regelung läuft Ende des Jahres aus, dann sind es wieder 30 Tage. Jeder Klinik werden also die Einnahmen eines knappen Monats fehlen. Wenn man, wie die meisten Krankenhäuser, kein Geld in der Kasse hat, wird es schwierig, diese Zeit zu überbrücken. Bei Varisano macht allein das laut Frankfurts Kämmerer Bastian Bergerhoff (Grüne) einen zweistelligen Millionen-Betrag aus. Und dann sind ja auch die Kreditzinsen wieder enorm gestiegen. Ein anderes Problem ist, dass die Kosten für die Pflege nicht über die Fallpauschalen, sondern direkt mit den Krankenkassen abgerechnet werden - eigentlich eine positiv gemeinte Regelung, um zu verhindern, dass weiter Stellen in der Pflege abgebaut werden. Allerdings müssen sich Klinik und Kasse nun vorab auf ein sogenanntes Pflegebudget einigen. Und es gibt Krankenhäuser, die warten noch für die letzten drei Jahre darauf. Sie bekommen zwar Abschläge, trotzdem fehlt Geld in der Kasse. Auch das kann bei Kliniken der Größe des Varisano-Verbundes schnell mehrere Millionen Euro ausmachen.

Und dann sind viele Kliniken ja auch so sehr in die Jahre gekommen, dass sie dringend saniert werden müssten.

Korrekt. Eigentlich müssten diese Kosten zu 100 Prozent das Land Hessen tragen, wegen der vielen Bauvorhaben bezahlt es aber im Moment höchstens die Hälfte. Der Rest muss von der Klinik eigenfinanziert werden. Wenn das Krankenhaus Glück hat, hat es einen Träger mit genügend Geld im Rücken, wenn nicht, muss es neue Kredite aufnehmen und Zinsen zahlen.

Wieso kommt das Land Hessen mit dieser Zahlungsverweigerung ungeschoren davon?

Die Landesregierung begründet das damit, dass Hessen prozentual sowieso schon mehr Geld für Krankenhausinvestitionen aufwendet als andere Bundesländer. Und das stimmt. Aber es reicht eben trotzdem nicht.

Jetzt mal konkret zu Varisano: Was ist dort schiefgelaufen?

Das größte Problem ist, dass das Fachpersonal in Scharen abwandert. Allein im vergangenen Monat haben laut meiner Kenntnis 30 Personen die beiden Kliniken im Main-Taunus-Kreis verlassen - vermutlich vor allem deshalb, weil sie nicht nach Tarif bezahlt werden. Das bedeutet zum Beispiel, dass übers fehlende Weihnachtsgeld fast zehn Prozent des Einkommens wegfallen. Viele bekommen auch keine zusätzliche betriebliche Altersvorsorge. Dabei war die Situation schon vor Bekanntgabe der Zahlungsschwierigkeiten schlecht: Aus der Antwort der Landesregierung auf eine Anfrage des FDP-Abgeordneten Yanki Pürsün geht hervor, dass das Krankenhaus Hofheim zwischen Januar und September 2022 in drei Vierteln der Zeit von der Notfallversorgung abgemeldet war, weil ihm das Personal für die Notaufnahme fehlte. In Bad Soden gibt es laut meiner Kenntnis Zeiten, in denen für sechs Intensivpatientenbetten nur zwei Pflegekräfte zur Verfügung stehen, die dann bei einem Notfall auf den Normalstationen zusätzlich auch dort noch reanimieren müssen.

Ihr Bündnis fordert deshalb „attraktive Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“ in den Varisano-Kliniken. Wer soll das bezahlen, wenn doch schon jetzt kein Geld da ist?

Die Kosten fürs Pflegepersonal und die Betriebskosten müssen durch Zahlungen der Krankenkassen gedeckt werden. Und ansonsten warten wir auf die Krankenhausreform...

... die künftig statt Fall- sogenannte Vorhaltepauschalen vorsieht. Die Kliniken bekommen also Geld dafür, dass sie eine Leistung vorhalten, egal, wie oft sie genutzt wird. Wird das die finanziellen Probleme der Krankenhäuser lösen?

Es könnte zumindest helfen. Allerdings klingt es in dem im Juli vorgestellten Eckpunktepapier von Bund und Ländern, als ob die Vorhaltepauschalen Fixbeträge wären. Wenn man die einmal ausrechnet, hat man bei Inkrafttreten den Stand des Vorjahres. In wie weit Tarifanpassungen oder die Inflationsrate, die im Moment bei sechs Prozent, bei den Baukosten sogar bei über zehn Prozent liegt, berücksichtigt werden, geht aus dem Bund-Länder-Papier nicht klar hervor. Ich befürchte, dass dann über Vorhaltepauschalen auch eine kalte Marktbereinigung vorgenommen werden kann, aber das wissen wir noch nicht, denn die Einzelheiten werden gerade erst ausgehandelt. Auf jeden Fall wäre es sinnvoller, die Pauschale dynamisch anzupassen.

Eine kalte Marktbereinigung?

Das wäre der Fall, wenn Varisano oder andere gefährdete Kliniken durch Insolvenz aus dem System fallen, bevor die Frage geklärt ist, welche Kliniken mit welchen Versorgungsleistungen an welchen Standorten sinnvoll sind.

In Frankfurt gibt es mehr als 20 Krankenhäuser. Wäre es wirklich so schlimm, wenn eines, das nicht ordentlich wirtschaften kann, vom Markt verschwindet?

Sie könnten auch umgekehrt die Frage stellen, ob wir im Main-Taunus-Kreis noch Krankenhäuser brauchen, oder ob die Versorgung der Region nicht die Kliniken in Frankfurt übernehmen können. Solche Fragen lassen sich ohne eine grundsätzliche Verständigung über ein Gesundheitsversorgungskonzept nicht seriös beantworten. Wir brauchen erst einen politischen Konsens darüber, welche Krankenhäuser sinnvoll und notwendig sind, bevor wir die Kliniklandschaft verändern, nicht andersherum. Eine Brückenfinanzierung ist Voraussetzung dafür, dass man diesen politischen Prozess, für den formal das Land Hessen zuständig ist, überhaupt anstoßen kann. Deshalb unterstützen wir auch den Aktionstag der Deutschen Krankenhausgesellschaft am 20. September.

Glauben Sie denn wirklich, dass eine der drei Varisano-Kliniken in ihrer Existenz gefährdet ist?

Ja. Wenn sich bis zur Umsetzung der Reform nichts ändert, besteht die ernsthafte Gefahr, dass zunächst das Krankenhaus in Hofheim, dann das in Bad Soden und dann das in Höchst vom Markt verschwinden.

Griechische Banken retten wir, aber deutsche Krankenhäuser nicht? Das kommt mir komisch vor.

Ich glaube auch nicht, dass es dazu kommt. Aber wenn Sie in einer Magistratsvorlage die Formulierung „kurzfristige Liquiditätssicherung“ lesen, bedeutet das: Es ist kurz vor zwölf. Und selbst für eine eigentlich reiche Stadt wie Frankfurt sind 47 Millionen Euro nicht mehr so einfach wegzustecken.

Wie konnte es Ihrer Meinung nach dazu kommen, dass sich der Fehlbetrag auf insgesamt mehr als 90 Millionen Euro aufgetürmt hat?

Es ist ein enorm seltener Vorgang, dass bei einer Jahresprüfung so hohe Fehlbeträge gemeldet werden. Dass es mit Bastian Bergerhoff jetzt einen Klinikdezernenten gibt, zeigt ja auch, wie brisant das Thema ist. Die entscheidende Frage ist: Wer hat hier versagt? Hat die Geschäftsführung keine Liquiditätsplanung gemacht oder Zahlen zurückgehalten? Das kann ich mir kaum vorstellen. Hat der Aufsichtsrat darüber hinweggesehen? Dieser Frage muss nachgegangen werden und dann muss dem Steuerzahler ganz genau erklärt werden, was da passiert ist.

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