Die Geisterstadt der Chemie mit neuem Leben füllen

Beim trendigen „Westside Summer“ geht es um Aufmerksamkeit für ein ambitioniertes Immobilien-Projekt. Es locken Kinofilme, Konzerte und Gastronomie.
Frankfurt -Ein Jahr ist es jetzt her, dass der Projektentwickler BEOS im früheren Industriepark Griesheim das Transparent mit dem knackigen Projektnamen „Frankfurt Westside“ enthüllt hat, und der damalige Planungsdezernent Mike Josef (SPD), jetzt Oberbürgermeister, von den Chancen schwärmen konnte, die sich dort zwischen Bahngleisen und Main bieten. Ein Jahr ist nicht viel, wenn es darum geht, ein abgewracktes Chemie-Areal einer zukunftsträchtigen Nutzung zuzuführen: Umgebaut sein wird die „Westside“ in vielleicht 15 Jahren, schätzt Lara Kroker, Senior-Projektentwicklerin bei der BEOS AG in Frankfurt.
Ohne Werksmauer und Wachleute
Der Immobilienentwickler, der mit dem Eigentümer des Areals, Clariant, im Jahr 2020 einen Erbpachtvertrag über 99 Jahre abgeschlossen hat, wird nach Angaben von Projektmanager Mathias Strauch mehr als eine Milliarde Euro investieren. Geplant sei ein offenes Gewerbegebiet für große, mittlere und kleine Betriebe - ohne Werksmauer und Wachleute, dafür mit Grünanlagen, Gastronomie und Sportstätten. Auch ein eigenes Verkehrs- und Mobilitätskonzept soll umgesetzt werden - samt Radwegen und Busanbindung zum S-Bahnhof Griesheim (wir berichteten).
Seit einigen Monaten werden die ersten Flächen freigeräumt; die Baggerzähne beißen sich vom Westen her durch. Schutt, geborstene Mauern und verbogene Moniereisen bestimmen das Bild. Nur ganz im Osten, an der Grenze zur Griesheimer Wohnbebauung, gibt es noch Mieter; der einzige Kunde, der eine zentrale Fläche nutzt, ist das Busunternehmen Transdev Rhein-Main GmbH, das dort Elektrobusse lädt. Dieser Bereich ist geprägt von labyrinthartigen Rohrleitungsbrücken mit abblätternder Farbe, Kesselhäusern mit geborstenen Fensterscheiben und Druckbehältern, die Moos ansetzen.
Es riecht noch immer nach Schwefelwasserstoff
Ein Rungenwagen auf seit Jahrzehnten ungenutzten Bahngleisen ist rot vor Rost; rostige Tränen laufen unter Rohren an gekachelten Wänden herab. Im alten Backstein-Kraftwerk mit seinen Sprossen-Bogenfenstern erinnert die Schalttafel mit ihren Bakelit-Elementen und den Beschriftungen „Frischdampf“, „Anzapfdampf“ und „Gegendampf“ an eine Industrie-Weltkulturerbestätte aus dem Ruhrgebiet. Überall sprießt hohes Gras aus den Fugen, und wo früher Ventile zischten, flattern friedlich Schmetterlinge durch eine Art Geisterstadt der Chemie, die noch immer nach Schwefelwasserstoff und Ammoniak riecht. Mehr als anderthalb Jahrhunderte war das Areal nur denen zugänglich, die dort arbeiteten; der Werkschutz hielt unerwünschte Besucher ab und sorgte für Sicherheit. „Das wird er auch noch ein paar Jahre tun“, sagt Selina Morello, Projektmanagerin bei BEOS: Die Verletzungsgefahr ist zu hoch.
Kinofilme, Konzerte, Weinprobe
Aber am Donnerstag, 13. Juli, und Freitag, 14. Juli, wird das sonst abgeriegelte Gelände erstmals öffentlich zugänglich sein, denn dort werden Kinofilme vor der historischen Industriekulisse des Dampfkraftwerks gezeigt: Am Donnerstag „Triangle of Sadness“, am Freitag „Bohemian Rhapsody“. Die zwei Freiluft-Kinoabende sind der Auftakt zum „Westside Summer“, der die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit - und auch potenzieller Miet-Interessenten - auf das frühere Chemie-Areal lenken soll. Den Zuspruch sollen Instagramer und Blogger bringen. Das frühere Dampfkraftwerk wird zur „Powerstation“, ist nun eine „Location“. Aus der „Westside“ soll am 28. Juli das EOS-Radio senden, ein Online-Radio für elektronische Club-Musik - EOS steht für „Expansion of Sound“, Klangverbreitung. Schon am 27. Juli wird eine Band aus Tel Aviv dort spielen; es werden Kinder-Workshops mit dem Antagon-Theater und dem Deutschen Architekturmuseum (DAM) angeboten.
Eine weitere Station des „Westside Summers“ wird der alte Kran am Mainufer - pardon, jetzt „West Coast“ - sein; dort werden im August an zwei Tagen Filme gezeigt, und dort soll es auch ein „Wine Tasting“ geben, denn dieser Bereich am Fluss soll mit Gastronomie, Eisbude und Skaterbahn zum Treff werden wie der Hafenpark im Osten der Stadt. Die Einnahmen aus diesen Angeboten will BEOS lokalen Projekten spenden; dem Entwickler geht es um Resonanz. Kinokarten sind zu 10 Euro erhältlich unter www-frankfurt-westside.de/connect/westside-cinema.
4000 Arbeitsplätze sollen entstehen
Im früheren Industriepark Griesheim stehen dem Projekt „Frankfurt Westside“ rund 72 Hektar Fläche zur Entwicklung zur Verfügung; das sind etwa 102 Fußballfelder. Ein Großteil ist bebaut; die verlassenen Anlagen werden gerade demontiert, viele Gebäude abgerissen. Einige sollen allerdings stehenbleiben und neu genutzt werden, etwa historische Backstein-Gebäude aus der Gründerzeit. Denn der frühere Chemiestandort mit seiner 170-jährigen Tradition soll in Frankfurts größtes gemischtes Gewerbe- und Industriequartier umgebaut werden - mit viel Platz für Produktion, Rechenzentren, neue Technologien, Kreativität und Innovation. Was es nicht mehr geben wird, sind Produktionsstätten, die unter die Störfallverordnungen fallen.
In Boom-Zeiten arbeiteten rund 3500 Menschen im Industriepark Griesheim; diese Zahl soll wieder erreicht und - wenn möglich - auch überboten werden, dieses Ziel hat sich der Entwickler BEOS gesetzt.
Die „Frankfurt Westside“ umfasst den größten Teil des früheren Industrieparks Griesheim; ausgenommen ist die gesicherte hochtoxische Deponie, die als „Griesheimer Alpen“ bekannt ist, und das Areal an der Fritz-Klatte-Straße, auf dem sich unter anderem das Busdepot der DB Regio Bus Mitte befindet. Für 27 neue Elektrobusse hat die DB Regio allerdings gerade im Industriepark Höchst einen neuen Busbetriebshof gebaut: An insgesamt 20 Ladepunkten können E-Busse dort mit Strom aus regenerativen Quellen versorgt werden.

