Die Kinder des "Islamischen Staats"

Frankfurter Jugendamt kümmert sich um zwölf Minderjährige
Frankfurt -"Es gibt Kinder, die gar nicht traumatisiert sind, aber auch solche, die sehr viel Schlimmes erlebt haben", sagt Thomas Mücke, Geschäftsführer von "Violence Prevention Network" (VPN), dem offiziellen hessischen Partner zur Re-Integration von IS-Rückkehrern. Deutschlandweit weiß er mit am meisten über die Probleme von Kindern, die unter der Herrschaft des Islamischen Staates (IS) groß wurden. Doch Einzelheiten vermeidet er - wie alle offiziellen Stellen, die mit diesem Thema befasst sind. Zu groß ist die Angst der Gesellschaft vor Terror; zu groß die Angst der Helfer, Frauen und Kinder zu stigmatisieren.
Fest steht: Von den rund 300 Frauen, die laut Verfassungsschutz zwischen 2012 und 2019 von Deutschland nach Syrien oder in den Irak gereist sind, um sich dem IS anzuschließen, sind 78 mittlerweile offiziell zurückgekehrt. Wie viele Kinder sie mitbrachten, werde "aus datenschutzrechtlichen Gründen" nicht erhoben, schreibt das Bundeskriminalamt (BKA).
Spielen zwischen
Maschinengewehren
Meist reisen diese Frauen - Rückkehrer gibt es bisher kaum, da die Kämpfer entweder gefallen sind oder in syrischen oder irakischen Gefängnissen sitzen - über den Berliner oder den Frankfurter Flughafen ein. Wie viele welchen Weg genommen haben, auch das erhebt das BKA laut eigenen Angaben nicht.
Fest steht auch: Die Rückkehrer verbrachten Monate oder gar Jahre in einem ideologisch geprägten, gewalttätigen Umfeld. Die Kinder spielten zwischen verschleierten Frauen und Männern mit Maschinengewehren, litten Hunger und Durst, gegen Ende des "Kalifats" unter den Folgen von Angriffen - und unter einer radikal-islamistischen Erziehung. Sie wurden "mit Gewalt unterworfen" und mussten "unzählige Taten barbarischer Grausamkeit" ansehen oder gar begehen, schreibt das "Radicalisation Awareness Network" (RAN), ein EU-weiter Zusammenschluss von Praktikern, die mit radikalisierten Menschen arbeiten. Das ging "von öffentlichen Auspeitschungen, Amputationen und Kreuzigungen bis hin zu Massenenthauptungen. Einige Kinder wurden als Kämpfer und Henker eingesetzt". Selbst die, die von diesen grausamen Schauspielen verschont blieben, lernten Zählen anhand von Handgranaten- und Panzerbildchen.
46 Rückkehrer-Kinder im Alter zwischen einem Monat und 15 Jahren hat das Frankfurter Jugendamt bisher in Empfang genommen. Die Mitarbeiter warten bereits, wenn die Familien am Flughafen deutschen Boden betreten. Mit dabei sind auch ein Mitarbeiter von VPN und Bundespolizisten, wenn die Mutter in Untersuchungshaft genommen werden soll. Ist sie in einer anderen Kommune gemeldet, werden die Kinder dem dortigen Jugendamt übergeben. Wenn nicht, bleiben sie zunächst in Frankfurt. "Unser Ziel ist es, dann für jedes Kind individuell die beste Lösung zu finden", heißt es aus dem Jugendamt. Wieder ohne konkrete Beispiele.
Schon die erste zu klärende Frage ist eine der schwierigsten: Ist das Wohl des Kindes gefährdet, wenn es bei der Mutter bleibt? Gerade jene Frauen, die seit 2019 aus den syrischen Flüchtlingscamps zurückkehren, "sind die, die sich mutmaßlich nicht abgewandt haben, sondern bis zum Ende dabei waren", sagt Armin Laaf. Er ist einer von zwei sogenannten Rückkehrkoordinatoren am Landeskriminalamt, die sich seit zwei Jahren um die Vernetzung der verschiedenen Hilfen in Hessen kümmern. Obwohl sie eng mit dem Staatsschutz zusammenarbeiten, sind die beiden keine Polizisten, sondern Politikwissenschaftler. Ein weiterer Versuch, der gesellschaftlichen Angst Herr zu werden.
Häufig werden die Kinder deshalb zunächst in Pflegefamilien untergebracht. Doch das sei nicht immer ideal, sagt Mücke. Denn oft sei die potenziell ideologisierte Mutter die einzige Bezugsperson der Kinder. Und ein traumatisiertes Kind, das auch noch seine Mutter verliert, brauche deutlich länger, um vom "Überlebensmodus" wieder in einen Modus zu wechseln, in dem es rational denken kann, schreiben die Praktiker von RAN. Erst dann sei es aber sinnvoll, eine Therapie zu beginnen oder das Kind an demokratische Werte heranzuführen - was wiederum notwendig ist, um es vor ideologischer Re-Verblendung zu schützen. "Für viele Akteure ist diese facettenreiche Befassung mit Rückkehrern vollkommen neu", sagt Laaf. Seine Aufgabe ist es deshalb nicht nur, die Hilfen für einzelne Familien zu koordinieren, sondern auch, alle hessischen Akteure, die es potenziell mit IS-Rückkehrern zu tun bekommen könnten, für deren komplexe Probleme zu sensibilisieren. Eine Herkulesaufgabe.
Weil die Stadt Frankfurt für den Flughafen zuständig ist, greifen die Räder hier bereits gut ineinander. Zwölf Kinder begleitet das Jugend- und Sozialamt im Moment, hilft ihnen bei der körperlichen und psychischen Genesung und dabei, sich in Regelstrukturen wie dem Kindergarten oder der Schule zurechtzufinden.
Gibt die Gesellschaft
ihnen eine Chance?
"Unsere Devise lautet: So viele Menschen wie nötig, aber so wenige wie möglich informieren. Wir wollen vermeiden, dass die Fälle bekannt und die Kinder dadurch stigmatisiert werden", sagt Laaf. Auch hier gebe es keine Pauschallösungen. Manchmal reicht es laut RAN, wenn Rektor und Klassenlehrerin Bescheid wissen. Manchmal sei es sinnvoll, dass sich Lehrer im Umgang mit Traumafolgen weiterbildeten. Immer müsse ein Netzwerk aus unterstützenden Hilfen geschaffen werden. Denn die Schule als "sicherer und regulierter Ort, wo sich das Kind oder der Jugendliche unterstützt fühlt, wo es Strukturen und Regeln gibt und wo Stress abgeschwächt wird", sei der schnellste Weg zurück in die Normalität.
Zwar gehen die RAN-Praktiker davon aus, dass alle Rückkehrer-Kinder der IS-Ideologie ausgesetzt waren. Die Ideologien seien bei Kindern aber oft nicht sehr verfestigt, sagt VPN-Geschäftsführer Mücke. Je schneller sie ins normale Leben eingebunden würden, desto höher sei die Chance, dass sie ihre Erlebnisse verarbeiten und hinter sich lassen können.
Doch selbst dann bleibe für diese Kinder immer ein Restrisiko. "Es wird sehr viel davon abhängen, mit welchen Augen wir auf sie schauen: Geben wir ihnen die Chance, ihr eigenes Leben zu führen, oder halten wir sie pauschal für künftige dschihadistische Kämpfer?" Auch Laaf findet hier deutliche Worte: "Wir müssen differenzieren: Die Mütter haben sich, zumindest zum Zeitpunkt der Ausreise, aktiv für den IS entschieden. Die Kinder sind Opfer der Entscheidungen und der ideologischen Erziehung ihrer Eltern."
Sarah Bernhard