„Die Täter stärker in die Verantwortung nehmen“

Ihr gesamtes Berufsleben hat Hilke Droege-Kempf schutzbedürftigen Frauen und Kinder gewidmet
Seit mehr als 40 Jahren setzt sich Hilke Droege-Kempf auch im autonomen Frauenhaus des Vereins „Frauen helfen Frauen“ für die Rechte von Frauen ein. Vor kurzem wurde die 66-Jährige dafür mit dem Gabriele-Strecker-Preis für herausragendes gesellschaftliches Engagement ausgezeichnet. Mit Redakteurin Sarah Bernhard sprach sie über ihr langes Engagement, aktuelle Probleme und die größte Freude ihrer beruflichen Laufbahn.
Frau Droege-Kempf, was sind die größten Veränderungen im Kampf um Frauenrechte, seit 1982 mit einem Praktikum ihre Arbeit im autonomen Frauenhaus begann?
Das Thema Häusliche Gewalt ist mittlerweile in der Gesellschaft angekommen. Und die Frauenhaus-Arbeit hat sich professionalisiert, mittlerweile arbeitet dort die dritte Generation. Frauenhäuser gibt es in Deutschland ja erst seit 1976, unsere Generation hat die Arbeit erst entwickelt. Dabei waren die Öffentlichkeitsarbeit und die politische Auseinandersetzung wichtige Punkte - sonst hätte sich nichts verändert. Rechtlich gab es in diesen Jahrzehnten zwei große Veränderungen. Die eine war die Verabschiedung des Gewaltschutzgesetzes im Jahr 2002. Davor war häusliche Gewalt kein Offizialdelikt, sondern ein Antragsdelikt. Wenn Nachbarn die Polizei gerufen hatten, hat sie erstmal gefragt: Sind Sie verheiratet? Und wenn die Antwort ja war, ist die Polizei wieder gegangen. Die zweite war das Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts 1998, mit dem Kindern das Recht auf beide Elternteile eingeräumt wurde.
Klingt beides gut.
Na ja. Das Gewaltschutzgesetz hat die Zusammenarbeit mit der Polizei zwar enorm verändert, hat aber seine Tücken. Wenn ein Täter seine Frau umbringt, kommt er vor Gericht. Wenn er sie misshandelt, gibt es eine Wegweisung.
Das heißt, der Täter darf sich der gemeinsamen Wohnung nicht mehr nähern und sie auch nicht mehr betreten.
Verstößt er dagegen, kann lediglich ein Bußgeld verhängt werden. Wir haben manchmal Fälle, in denen der Täter schon vier, fünf Wegweisungen hatte, sich aber überhaupt nicht darum schert. Solche Täter sind besonders gefährlich.
Was macht man dann?
Normalerweise vermitteln wir die betroffene Frau in ein Frauenhaus in einer anderen Stadt. Das kommt oft vor, erst diese Woche wieder. Frau und Kinder verlieren dadurch aber ihr Umfeld und ihre Freunde. Der Täter hockt währenddessen in der gemeinsamen Wohnung, die meistens viel zu groß ist, und bekommt, wenn er beim Jugendamt klar macht, dass er einen Umgang mit seinen Kindern möchte, auch diesen relativ schnell gewährt. In den meisten Fällen hat er bereits nach einigen Wochen zumindest einen begleiteten Umgang.
Trotz der Kindschaftsrechtreform?
Gerade wegen der Reform. Denn in ihr wird nicht zwischen hochstrittigen Fällen und Fällen von häuslicher Gewalt unterschieden. Wenn eine Frau ins Frauenhaus geht, und der Mann beim Jugendamt einen Antrag stellt, dass er die Kinder sehen will, kommt es in der Regel zu einem beschleunigten Verfahren. Es gibt viele Fälle, in denen auch die Kinder erst einmal Angst vor dem Vater haben, ihn aber trotzdem sehen müssen. Das finden wir schlimm. Stattdessen müsste die Frau in Fällen von häuslicher Gewalt die Möglichkeit haben, zu sagen: Wir brauchen erstmal Ruhe. Dann müsste der Umgang ausgesetzt und geschaut werden, ob der Täter bereit ist, sich seinem Aggressionsproblem, seiner fehlenden Impulskontrolle, aber vor allem seinem falschen Selbstverständnis zu stellen. Er muss davon wegkommen, dass Frau und Kinder sein Eigentum sind. Dazu müsste die Täterarbeit weiter ausgebaut werden.
Und wenn der Täter das nicht will?
Dann kann man nur den Umgang dauerhaft aussetzen. Die Frau und die Kinder müssen geschützt werden, sonst passiert so etwas wie in Hanau, wo ein Vater im Mai 2022 seine sieben- und elfjährigen Kinder getötet hat. Da sind wir auch nach 40 Jahren Frauenhausarbeit noch am Boden. Und es macht uns wütend, weil wir wissen: Die Frau muss durch die ganze Bundesrepublik flüchten, den Tätern passiert relativ wenig. Und wenn sie begleiteten Umgang bekommen, muss die Frau im Zweifel sogar wieder zurückkommen. Wo sind da die Rechte der Kinder und wo ist das Recht der Frau?
Wie kann es sein, dass die Gerichte die Sichtweise der Frauen nicht berücksichtigen?
Es wird vermutet, dass sie aus eigennützigen Motiven handeln. Aber oft ist es sogar so, dass die Frau sagt: Ich will, dass die Kinder den Vater sehen, aber ich habe auch Angst. Wir hatten schon Fälle, in denen die Kinder ins Ausland gebracht wurden oder die Väter zum Umgang taschenweise Geschenke mitgebracht haben, um die Kinder für sich einzunehmen.
Aber man könnte doch Sie fragen.
Das würden wir uns wünschen! Wenn die Frau zu uns kommt, machen wir eine Gefährdungsanalyse, wir sind also geübt darin, einzuschätzen, ob die Situation wirklich gefährlich ist oder nicht. Die Gerichte und die Politik sollten endlich begreifen, dass im Bereich Häusliche Gewalt wir die Expertinnen sind und als solche auch gehört werden wollen. Aber wir werden nie gefragt, weil angenommen wird, dass wir parteiisch für die Frauen sind. Sind wir auch, aber wir sind auch parteiisch für die Kinder.
Laut polizeilicher Kriminalstatistik ist die Partnerschaftsgewalt in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr um 9,4 Prozentpunkte gestiegen. Ist das tatsächlich ein Anstieg oder trauen sich mehr Betroffene, sich zu melden?
Die Zahl der Körperverletzungen und Morde ist Fakt. Ich glaube, dass die Gewalt tatsächlich angestiegen ist. Gerade nach dem jüngsten Vorfall am Frankfurter Berg hatten wir wieder so eine Wut.
Die Gegenidee des Europarats war die sogenannte Istanbul-Konvention, die geschlechtsspezifische Gewalt bekämpfen soll und in Deutschland Anfang 2018 in Kraft trat. Hilft sie denn nicht?
Das Problem ist, dass sie durch unsere föderale Struktur ein Flickenteppich ist. Eigentlich sollte eine bundesweite Koordinierungsstelle eingerichtet werden, um genau das zu verhindern, die gibt es aber noch nicht. In Frankfurt haben wir das Glück, dass es jetzt zumindest eine städtische Koordinierungsstelle gibt. Sie sammelt Zahlen, Daten und Fakten und deckt somit auch Lücken auf.
Und, gibt es schon erste Erkenntnisse?
Es gibt in der Stadt schon sehr viele Beratungsangebote für Frauen. Ein großes Problem ist aber die Wohnungsnot, nicht nur in Frankfurt, sondern bundesweit. Wenn sie keine Wohnung finden, können die Frauen nicht ausziehen, es gibt keinen Durchlauf in den Häusern.
Ein Problem, das sich weder einfach noch kurzfristig lösen lässt.
Wir hätten da aber zumindest einen Vorschlag. Wenn Frau und Kinder die Stadt verlassen müssen, weil der Täter so gefährlich ist, ist nicht einzusehen, dass er einfach weitermachen darf. Bisher verliert er nichts außer seiner Familie, was er ja selbst zu verantworten hat. Seinen Job, seine Freunde und seine Wohnung behält er, bekommt vielleicht sogar noch begleiteten Umgang. Wir wünschen uns, dass die Täter stärker in die Verantwortung genommen werden, zum Beispiel, indem der Mietvertrag für die ehemals gemeinsame Wohnung, zumindest bei öffentlich gefördertem Wohnraum, nach einer bestimmten Karenzzeit erlischt. Die frei werdende Wohnung könnte man dann einer Frau anbieten, die aus einer anderen Stadt in ein Frankfurter Frauenhaus flüchten musste. Der Durchlauf wäre gewährleistet. Das wären zwei Fliegen mit einer Klappe.
Klingt gut. Aber ebenfalls schwierig umzusetzen.
Das ist richtig, unter anderem, weil es mehrere Rechtsgebiete betrifft. Aber wir müssen endlich anfangen, kreativ zu werden, ohne gleich zu sagen: Das geht nicht. Außerdem wissen wir seit der Eröffnung des ersten Frauenhauses 1976 in Berlin: Ohne Druck wird sich wenig ändern. Die Probleme müssen immer wieder benannt werden, es muss immer wieder auf Lösungen gedrängt werden.
Sie machen seit 40 Jahren politische Arbeit. Was war ihr schönstes Erlebnis in dieser Zeit?
Als das Stadtparlament vor kurzem die Zwölf-Monats-Regelung für Gewaltschutzfälle aus anderen Gemeinden gekippt hat.
Die Regelung, dass Frauen zwölf Monate in Frankfurt wohnen müssen, um hier ein Anrecht auf eine Sozialwohnung zu haben.
An dem Tag habe ich mir abends einen Sekt aufgemacht, weil ich so glücklich war. Dafür haben wir uns 40 Jahre eingesetzt.
Macht Sie so etwas auch stolz?
Ich glaube, es freut uns von der ersten Generation alle sehr, was wir in den zurückliegenden Jahren erkämpft haben. Wir wissen aber auch, dass es da noch sehr viele Baustellen gibt. Und wir wissen, wie gefährdet die Arbeit ist, weil sie von politischen Mehrheiten abhängig ist. Das sollten auch die Protestwähler im Hinterkopf haben - im schlimmsten Fall werden für unsere Gesellschaft wichtige Strukturen zerstört.