Die vielen Gesichter des Leidens und des Hoffens

Als der Anruf kam, packte er nur das Nötigste: Zahnbürste, Wäsche, ein paar Hygieneartikel und vor allem: zwei Kameras. Sie sind gleichsam das Werkzeug von Boris Roessler. Der Frankfurter Fotograf arbeitet seit fast 25 Jahren für die Deutsche Presse Agentur (dpa). Meistens ist er in Frankfurt und Umgebung unterwegs. Wenn sich irgendwo auf der Welt eine Katastrophe ereignet, kann Roessler allerdings damit rechnen, dass der Anruf aus der Chefredaktion kommt:
Kannst du dir vorstellen, morgen loszufahren? So auch, als Anfang Februar ein verheerendes Erdbeben Teile der Türkei und Syriens verwüstete, von dem heute rückblickend das Auswärtige Amt in Berlin als von einer der „schlimmsten Naturkatastrophen der letzten hundert Jahre“ spricht, mit geschätzt 51 000 Toten und mehr als hunderttausend Verletzten.
Als Boris Roessler am Frankfurter Flughafen den Flieger nach Istanbul nimmt, weiß er noch nicht, was ihn erwartet. Er ist gut vorbereitet, hat die Schnittschutzhose, zwei dicke Jacken übereinander und die dicken Stiefel angezogen. Im Rucksack steckt, was er für eine Woche benötigt, vor allem die beiden Kameras. Weiter geht es per Flugzeug nach Adana. Dort stößt eine Kollegin aus dem dortigen dpa-Büro dazu. Sie spricht türkisch, kann den Kontakt zur Bevölkerung herstellen. Adana ist auch vom Beben betroffen, der Flughafen aber noch intakt. Gemeinsam reisen die beiden Reporter per Auto weiter. „Durch weitgehend unzerstörtes Gebiet zunächst“, so Roessler. Als es über eine Hügelkette geht, werden mit einem Schlag Zerstörung und Verwüstung, wird die Apokalypse sichtbar. „Mit einem Mal steht da nichts mehr, alles liegt in Schutt und Trümmern, man findet praktisch keine optischen Fixpunkte mehr“, beschreibt Roessler seinen ersten Eindruck im Katastrophengebiet. Er und seine Kollegin können sich einem Bergungstrupp anschließen, können mitlaufen zu den verzweifelten Menschen, die auf den Trümmern ihrer Häuser stehen und nach Angehörigen suchen. Roessler sieht die Reihen schwarzer Leichensäcke, riecht den Geruch von Verwesung, erlebt schließlich hautnah die Suche nach einer verschütteten Frau mit: wie alle Hilfskräfte koordiniert graben. Wie einer der Helfer ruft: „Stimme.“ Wie sofort die Arbeiten stoppen und alle angestrengt horchen nach Lebenszeichen aus dem Schuttberg. „Da bekommt die Katastrophe sofort eine menschliche Dimension“, sagt Roessler. Berührend gewesen seien auch die Gesten der Gastfreundschaft selbst unter den denkbar widrigsten Umständen. „Familien haben sich am offenen Feuer gewärmt und uns einen Tee angeboten.“
Solche Momente unverstellter Mitmenschlichkeit in Bildsprache, in ein Foto zu übersetzen und eben nicht einfach nur „draufzuhalten“, das sei für ihn elementar. Roessler ist ein erfahrener Fotograf, preisgekrönt sind viele seiner Arbeiten. Er weiß: „Fotografie ist auch ganz viel Psychologie. Mit einem Foto kann man Nähe schaffen, aber auch viel kaputt machen.“
Roessler und seine Kollegin bekommen die Gelegenheit, ein Krankenhaus in Adana zu besuchen, in dem schwerverletzte Erdbebenopfer versorgt werden. Er darf sich umsehen, er darf fotografieren. In einem Zimmer trifft er auf zwei verletzte Kinder, ein zehnjähriges Mädchen und einen neunjährigen Jungen. Ihre zertrümmerten Arme und Beine sind verbunden. Das unermessliche Grauen des Erlebten hat sich in die Kindergesichter und wohl auch in ihre Seelen gegraben. „Es war einfach nur still im Raum“, beschreibt Boris Roessler seinen ersten Eindruck. Der Vater der Kinder habe ihm signalisiert, dass er fotografieren dürfe. Einzige Bedingung: Fragt sie nicht nach ihrer Mutter. Weil die Kinder noch nicht wüssten, dass sie unter den Todesopfern sei.
Das Mädchen mit den todtraurigen Augen heißt Saadet. Sie spricht nicht, reagiert auch nicht auf Ansprache. Es sei ihm schließlich gelungen, Augenkontakt herzustellen zu ihr und ein Einverständnis, sie zu fotografieren. Roessler ist es gelungen, die Wucht des Horrors in einem Foto, im Bild eines verletzten Kindes mit zerschnittenem Gesicht und den traurigsten Augen der Welt auszudrücken. Es bedarf keiner Erläuterungen und Erklärungen. Das Foto dürfte preisverdächtig sein. In solchen Situationen wie jener in der Klinik in Adana habe er das Gefühl: Du musst dieses Foto machen. Um zu zeigen, was passiert ist.
Gezeigt, was passiert ist, hat Boris Roessler bei zurückliegenden Einsätzen: in New York nach den Terroranschlägen im September 2001, in Thailand nach dem verheerenden Tsunami, in Afrika in schrecklichen Dürrekatastrophen, schließlich bei der Überschwemmung im Ahrtal. Jeder Schauplatz für sich eine Katastrophe von „nicht in Worte zu fassender Dimension“, sagt Boris Roessler. Und auch: „Ein Teil von einem selbst bleibt bei solchen Geschichten.“
Sechs Tage war er im Erdbebengebiet unterwegs. An jedem Tag hat er fotografiert. Nicht die endlosen Reihen von Leichensäcken, weil er das für „fotografischen Voyeurismus“ hält. Aber die Menschen: die am Feuer in der Trümmerwüste, die Verzweifelten, die Verletzten, die ausgegrabenen Geretteten. Mehrere hundert Fotos von Boris Roessler gingen über den dpa-Bildfunk in die Welt.
„Man braucht ein paar Tage, um den Kopf wieder frei zu kriegen“, sagt der erfahrene Krisen-Fotograf nach seiner Rückkehr. Hilfreich ist mitunter der ganz normale Arbeitstag und der nicht immer besonders spektakuläre Alltag in Frankfurt wie das Fotografieren bei der Bilanz-Pressekonferenz eines Dax-Konzerns.
Boris Roessler will wieder nach Adana reisen, später. Er hat sich vorgenommen, die beiden Kinder noch einmal zu besuchen, den Jungen und das Mädchen aus der Klinik. Will sehen, ob ihre Verletzungen geheilt sind, die körperlichen und die seelischen. Und ob Saadet wieder spricht.
