Düsterer „Tatort“ über den Mord an einem Polizisten

Die Frankfurter Ermittler Brix und Janneke sind wieder im Einsatz
Der Blick schweift in der Dunkelheit über eine Waldstraße. Ein junger Polizist (Sebastian Klein) sitzt allein in einem Polizeiwagen und misst die Geschwindigkeit der vorbeifahrenden Autos. Seinem gelangweilten Gesicht ist die Unterforderung anzusehen. Da keiner der wenigen Fahrer zu schnell unterwegs ist, sucht er eine Tankstelle auf, um etwas zum Essen einzukaufen. Danach telefoniert er kurz mit seiner schwangeren Frau und spricht mit einer Gruppe Jugendlicher, die unter Drogeneinfluss zurück nach Hause fahren. Er empfiehlt ihnen lakonisch ein Taxi. Ob sie seinen Rat befolgen, interessiert ihn nicht weiter. Auf seiner Heimfahrt trifft er noch zwei Bekannte.
Eine Szene später suchen seine Kollegen im „Tatort: Erbarmen, zu spät“, der am kommenden Sonntag, 10. September, ab 20.15 Uhr im Ersten läuft, nach seiner Leiche. Unter den Ermittlern sind die Frankfurter Polizisten Paul Brix (Wolfram Koch) und Anna Janneke (Margarita Broich). Brix hat gerade seinen Führerschein verloren und muss sich von anderen fahren lassen. Wolfram Koch spielt den Ermittler mit großer Ruhe und Zurückgenommenheit, was nicht heißt, dass seine Figur nicht auch mal harte Töne anschlagen kann. Der Neonazi (Niels Bormann), der behauptet, bei dem Mord an dem Polizisten dabei gewesen zu sein, bringt Brix an die Grenze seiner Geduld.
Ein Fall mit vielen Wendungen
Jedes Mal, wenn die Polizeikolonne an einem weiteren Rübenacker vorbeifährt, ist der angebliche Zeuge sich zunächst sicher, dass die Leiche in dem Wald dahinter vergraben sei, nur um plötzlich wieder seine Meinung zu ändern, weil es doch so dunkel war und er immer noch alkoholisiert sei. Als er scheinbar aus heiterem Himmel eine Panikattacke vortäuscht, platzt dem übermüdeten Brix der Kragen; seine Kollegen müssen ihn hindern, handgreiflich zu werden.
Janneke nutzt zwischenzeitlich den Tumult, um sich mit dem unentschiedenen Zeugen zu unterhalten. Sie nähert sich ihm mit einer eigenwilligen Penetranz; ihre Körpersprache schwankt zwischen Ekel und professioneller Neugier. Als sie ihm das Foto einer Geburtstagsparty zeigt, das sie von der Frau des ermordeten Polizisten erhalten hat, und er auf einen der darauf abgebildeten mitfeiernden Polizisten heftig reagiert, besteht für sie kein Zweifel: Sie müssen nach einem „Verräter“ in den eigenen Reihen suchen.
Aktuelle Vorgänge übertragen
Fortan jagt eine Wendung die nächste: Ex-Kollegen, die in rechtsextreme Chats verwickelt waren, tauchen auf, Freundschaften zerbrechen, Misstrauen gräbt sich in die Gesichter des zunehmend entsetzten Teams. Es wird gelogen, es werden Spuren verwischt und manipuliert, Wildschweine gejagt und V-Männer liquidiert. Bis die Leiche endlich gefunden wird, vergehen in der Filmhandlung Stunden.
Die nie endende Nacht verleiht der menschenleeren Landschaft mit ihren klaustrophobisch schmalen Landstraßen die Anmutung eines Kammerspiels. Wie Gespenster verharren die wartenden Figuren zunächst in banalen Gesprächen, blass, resigniert und von der Vergeblichkeit ihrer Arbeit zermürbt. Bis sie erkennen müssen, dass manche unter ihnen ihren Hass auf die Verhältnisse in Stärke und Allmachtsfantasien umkehren wollen. Die nicht nur Hinrichtungslisten führen, sondern auch bereit sind, in den eigenen Reihen mit Waffengewalt „für Ordnung“ zu sorgen.
Regisseur Bastian Günther gelingt es meisterlich, die aktuellen Vorgänge rund um Reichsbürger, Prepper-Gruppen, die Polizeiwache 1 in Frankfurt und die NSU-2.0-Drohbriefe in einen dichten, aber zugleich erstaunlich langsamen Thriller zu übertragen. Der Fokus liegt auf dem ambivalenten Innenleben der Figuren - nicht etwa auf der möglichst verwickelten Lösung des Falls oder auf einer auf Effekte setzenden Action-Dramaturgie. Subtile Horror-Elemente werden in kleinsten Dosierungen eingesetzt. Dafür spielt die Musik eine atmosphärisch wichtige Rolle.
Die in der Nacht herumirrenden Polizeiwagen leuchten in diesem musikalischen Umfeld beinahe wie von der Bahn abgekommene Raumschiffe, während rote Kamerafilter immer wieder dafür sorgen, dass das beklemmende Geschehen die Ausmaße eines surreal bedrohlichen Untergangsszenarios annimmt. kna