1. Startseite
  2. Frankfurt

Ehemaliges Frankfurter Neckermanngebäude gibt Start-Ups neue Heimat

Kommentare

Eduard Krömer hat im alten Neckermannhaus seine Werkstatt. Er fertigt Stahlrahmen für Fahrräder, an denen man im Licht der Lightbox Schweißnähte nicht einmal mehr erahnen kann. FOTO: Michelle Spillner
Eduard Krömer hat im alten Neckermannhaus seine Werkstatt. Er fertigt Stahlrahmen für Fahrräder, an denen man im Licht der Lightbox Schweißnähte nicht einmal mehr erahnen kann. © Michelle Spillner

Wie im Frankfurter Osten ein Kosmos der Kreativität mit 80 kleinen Firmen entstand.

Frankfurt -„Hier ist jeder für sich, aber niemand ist allein“, sagt die Floristin Catrin Pfaff. Sie ist eine von mehr als sechs Dutzend Start-ups, Einzelunternehmern und kleinen Firmen, denen während der Pandemie mehr oder weniger zufällig eine große Chance eröffnet wurde. Alle residieren im ehemaligen Neckermanngebäude, auch Telekomgebäude genannt, ganz in der Nähe des Danziger Platzes im Frankfurter Osten.

Der Platz ist es auch, der dem Gesamtgebäude jetzt den neuen Namen gibt: „Danzig am Platz“. 50er-Jahre-Architektur mit dem morbiden Charme des Unfertigen herrscht dort, kein Hochglanz, sondern die Patina einer langen Gebäudegeschichte - vor allem Freiraum gibt es dort. Freiraum ist es, der Kreativität Flügel wachsen lässt.

Kreativität und die Bereitschaft, ungewöhnliche Wege zu gehen, waren es auch, die den Weg für die Ansammlung von rund 80 Unternehmern unter einem Dach eröffnete. Das Gebäude stand leer. Das Restaurant Margarete suchte 2019 größere Flächen für Events und mietete sich dort ein.

Coole Location im Erdgeschoss

In der ehemaligen Kantine im vierten Stock des Neckermanngebäudes entstand auf 1000 Quadratmetern eine Veranstaltungsfläche, im Erdgeschoss eine coole Location, in der man an jedem Freitag ab 18 Uhr essen und es sich gut gehen lassen kann.

Und dann kam die Idee: Warum nicht die anderen Flächen auch für Mieter öffnen? Leerstand ist quasi eine Sünde. Es brauchte nur jemanden, der sich darum kümmert. Jacob Engert, Mitarbeiter bei Catering und Events Margarete, hat eigentlich Politikwissenschaft studiert. Jetzt setzt der 32-Jährige sich mit Mietverträgen und Immobilienpreisen auseinander, ist der Ansprechpartner für die vielen Mieter, führt Interessenten durch die Räume und managt die unzähligen Quadratmeter.

Miete halb so hoch wie im Rest Frankfurts

Das Margarete ist der Hauptmieter und vermietet weiter. Zwischen 20 und 600 Quadratmetern sind die Flächen, Räume und Büros groß, die man dort mieten kann. Die meisten waren schnell weg. Entscheidend: Sie kosten im Vergleich zu den gängigen Quadratmeterpreisen in Frankfurt nicht einmal halb so viel. Bei 260 Euro für 20 Quadratmeter hat der eine oder andere im „Danzig am Platz“ sogar einen Zufluchtsort aus dem Homeoffice gefunden.

Der Branchenmix ist kunterbunt: Architekten und Fotografen, Maler und Floristin, gemeinnützige Gesellschaften und Schmuckdesigner, Handwerker und Computerexperten. Unter dem Dach von „Danzig am Platz“ werden Kacheln von Hand hergestellt, Gelder für Heimkinder gesammelt, Klamotten aus Tabakblättern hergestellt, Events geplant, Filme gedreht in Krankenhausszenarien und für den „Tatort“. Dort werden Schuhe designt, wasserlose Toiletten erdacht, plastikfreie Verpackungen entwickelt, Fitness-Apps programmiert, Drehbücher geschrieben, Ärzte beraten und Hörbücher verlegt, es wird Theater gespielt und Musik komponiert und so vieles mehr. Die Professionen der Mieter belegen auch: Es sind Leute, die „out oft the box“ denken, die ungewöhnliche Wege gehen und Dinge anpacken, die andere für undenkbar und vielleicht auch unprofitabel halten.

Nicht nur Nachbarn, sondern Freunde

Zwischen den Mietern sind auch Kooperationen und geschäftliche wie freundschaftliche Verbindungen entstanden. Catrin Pfaff kommt jeden Morgen aus der Großmarkthalle in ihr Atelier. Sie kauft erst die Blumen ein, die sie für das Gestalten der Gestecke und des Schmucks für ihre Kunden braucht: Restaurants und Eventveranstalter, Arztpraxen und Hochzeitspaare, Hotels und eben manchmal auch die Nachbarn ein paar Flure weiter. Trockenblumen seien gerade hoch im Trend. Ihr Atelier ist bis unter die Decke voller herrlicher Blüten, dazwischen Krepppapier aus Italien für handgemachte Mohnblumen. Studiert hat sie Architektur, an Blumen hatte sie schon während des Studiums Spaß. Sie ist ihren eigenen Weg gegangen.

Appell an die Frankfurter Stadtpolitik

Wie auch Eduard Krömer, der Steelframes, sprich: Stahlrahmen, einer ganz anderen als der üblichen Liga für Fahrräder baut. Seine Maßrahmen mit perfekter Sitz-Ergonomie, basierend auf einer detaillierten Vermessung, eignen sich fürs gemütliche Reiserad ebenso wie fürs agile Rennrad. Er ist von Offenbach ins „Danzig am Platz“ umgezogen. In seiner Werkstatt unter der schwarzgestrichenen Decke flankieren eine Drehbank mit Fräse und eine Standbohrmaschine ein Sofa.

Die Lightbox dient nicht nur der perfekten Ausleuchtung der Fotografien seiner Arbeiten. In diesem Licht sieht man auch jede noch so kleine Unebenheit auf der Stahloberfläche. Wenn Eduard Krömer fertig ist, ist von Schweißnähten nicht einmal mehr etwas zu erahnen. Eine Woche arbeite er an so einem Rahmen. „Das ist ein Gesamtwerk“, sagt er. Und wenn jemand Bikepacking benötigt, dann kommt Wildwax mit ins Boot, die ein paar Räume weiter aus Bienenwachs Tücher fertigen, die zu Taschen weiterverarbeitet werden.

Martin Goldhammer und Georg Kratzenstein haben sich schon während des Studiums kennengelernt. In ihrem Architekturbüro im Erdgeschoss planen sie unter anderem Kindergärten und Trauerhallen. „Wir haben uns das hier alles selbst ausgebaut.“ Das sei das Schöne, dass man es sich so gestalten könne, wie man wolle. Und das Schöne sei auch: Man muss nichts zurückbauen.

Das ist gleichzeitig auch der Wermutstropfen: Die Nutzung des Gebäudes ist befristet. Zunächst sollte sie 2024 enden, mittlerweile steht eine Verlängerung bis 2027 im Raum, die sowohl die Stadt, als auch die Nutzer begrüßen würden. „Wir schätzen, dass sich hier ein Mikrokosmos entwickelt hat. Es ist atmosphärisch und von den Rahmenbedingungen her optimal, einfach ein Super-Platz“, so die Architekten. So etwas finde man sonst nur in Berlin, und bezahlen könne man es nur auf dem Land. „Das sind Pflänzchen, die man pflegen sollte, auch im Stadtraum“, formulieren die Architekten einen Appell an die Stadtpolitik. Denn nicht nur „Danzig am Platz“ ist außerordentlich ungewöhnlich, in dieser Atmosphäre entsteht auch außerordentlich Ungewöhnliches.

Auch interessant

Kommentare