„Eine Erzählerin von Weltformat“

Nino Haratischwili wird 50. Stadtschreiberin von Bergen
Die deutsch-georgische Schriftstellerin und Theaterregisseurin Nino Haratischwili wird neue Stadtschreiberin von Bergen werden. Das gab die Kulturgesellschaft Bergen-Enkheim gestern traditionell im Rahmen der Ammes-Schneider-Lesung - diesmal im Hessen-Center - bekannt. Haratischwili ist vor allem durch ihren Roman „Das achte Leben (Für Brilka)“ international bekannt geworden, der in 25 Sprachen übersetzt wurde. Haratischwili folgt damit als 50. Stadtschreiberin auf Marion Poschmann.
Haratischwili sei eine „Erzählerin von Weltformat“ und „eine DER weiblichen Stimmen, die sich mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt“, begründet die Stadtschreiber-Jury ihre Entscheidung. „Haratischwili verbindet das Weltgeschehen mit Einzelschicksalen ihrer Figuren und lässt so die Vergangenheit Georgiens lebendig werden, ohne den Bezug zur Gegenwart zu verlieren“, heißt es in der Jury-Begründung.
Frauen, Männer und Gewalt
So erzählt das Familienepos „Das achte Leben (Für Brilka)“ (2014) über fünf Generationen hinweg von einer georgischen Familie im 20. Jahrhundert und der gewalttätigen Geschichte der Sowjetunion. In „Die Katze und der General“ (2018) thematisiert sie Kriegsverbrechen im ersten Tschetschenienkrieg und Haratischwilis jüngster Roman, „Das mangelnde Licht“ (2022), erzählt die Geschichte von vier Freundinnen und der Stadt Tiflis in den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den darauffolgenden Kriegen in Georgien.
Ihre Hauptfiguren sind zumeist Frauen, die sich in einer männerdominierten Welt durchschlagen und dabei oft traumatisierende Gewalterfahrungen machen. Wobei Haratischwili ihre Leser mit ihren Szenen der Gewalteskalation nicht schont. Auch die Schwierigkeiten bei der Integration in westeuropäische Länder thematisieren ihre Romane. „Meine Kindheit war geprägt von sehr, sehr extremen Situationen, die, glaube ich, jeden Westler für zehn Jahre an Therapiesitzungen ketten würden“, sagte die Autorin in der Arte-Dokumentation „Nino Haratischwili: Georgien hat mich nie verlassen“.
Sie ist 1983 in der georgischen Hauptstadt Tiflis geboren. Auf der Flucht vor Armut im postsowjetischen Georgien kommt sie als zwölf Jahre altes Mädchen mit ihrer Mutter 1995 nach Deutschland. Der Vater war früh gestorben. Mit 14 Jahren kehrt sie ohne ihre Mutter nach Georgien zurück, gründet eine deutsch-georgische Theatergruppe, für die sie selbst Stücke schreibt. Sie lebt bei ihren Großmüttern, studiert später Filmregie. 2003 kommt sie nach Hamburg und studiert Theaterregie. Heute lebt Haratischwili in Berlin.
Literarische Arbeit im Stadtteil
Als Stadtschreiberin von Bergen wird sie am 1. September Marion Poschmann ablösen und den Schlüssel zum Stadtschreiberhaus, „An der Oberpforte 4“, erhalten. Ein Jahr wird sie dort mietfrei wohnen können. Zum Stadtschreiberpreis gehört außerdem ein Preisgeld von 20 000 Euro.
Der Stadtschreiberpreis wird seit 1974 verliehen. Initiiert hatte diesen der Bergen-Enkheimer Schriftsteller Franz Joseph Schneider, der Mitglied der bekannten „Gruppe 47“ war. Nach seiner Frau Annemarie (Ammes) Schneider ist die Lesung benannt, bei der die Kulturgesellschaft jedes Jahr den oder die neue Stadtschreiberin bekanntgibt.
Ohne dass es zu laut gesagt wird, verbindet man im Stadtteil mit dem Preis die Erwartung, dass der Stadtschreiber in irgendeiner Weise kulturell in den Stadtteil hineinwirkt. Etwa mit Lesungen. Die 47. Stadtschreiberin Anne Weber hielt Sprechstunden ab, bei denen sie Geschichten der Bergen-Enkheimer sammelte - was wohlwollend in Bergen-Enkheim aufgenommen wurde. Oder Dorothee Elmiger, die 49. Stadtschreiberin, veranstaltete gemeinsame Lesungen mit befreundeten Autoren und war auf Stadtteilfesten oft gesehen.
Friedrich Reinhardt