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Eine Mahnung gegen das Vergessen

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Stolperstein-Patenschaft als Herzenssache: Danny Alexander Lettkemann, sein Sohn Steinar Alexander und seine Frau Stefanie-Sophie stehen dort, wo die nun ersten Stolpersteine Schwanheims in den Bürgersteig eingelassen werden.
Stolperstein-Patenschaft als Herzenssache: Danny Alexander Lettkemann, sein Sohn Steinar Alexander und seine Frau Stefanie-Sophie stehen dort, wo die nun ersten Stolpersteine Schwanheims in den Bürgersteig eingelassen werden. © Maik Reuß

Die ersten Stolpersteine im Stadtteil werden am 1. Juli enthüllt

Häuser schweigen. Wer auf dem Trottoir vor ihnen vorbeiläuft, weiß in der Regel nicht, wer vor Jahrzehnten in ihnen lebte, wer gar unter Zwang sein Heim verlassen musste, weil die Gestapo ihn holte, oder wer sich irgendwo zum Abtransport einfinden musste. Seit 1992 verlegt der in Alsfeld-Elbenrod lebende Künstler Gunter Demnig seine „Stolpersteine“.

Ein Leben in wenigen Worten

Sie erzählen in knappen Angaben von Namen und Geburtsjahr, wer eine Adresse während des Nationalsozialismus als Verfolgter verlassen musste. Oft steht dann „deportiert 1942 nach Auschwitz“ oder „Treblinka“ dahinter.

Noch gibt es sie in Frankfurt nicht in allen Stadtteilen. Dr. Martin Dill, Sprecher der „Initiative Stolpersteine Frankfurt am Main“, spricht von den ersten vier Stolpersteinen, die vom 1. Juli an in Schwanheim liegen werden, als 39. Frankfurter Stadtteil. Auf die Idee, dort den Anfang zu machen, kam der in Schwanheim lebende Architekt Danny Alexander Lettkemann, der mit seiner Familie die Patenschaft für die Steine übernommen hat. Die Steine mit Messingtafeln, auf denen die Namen derer stehen, die dort zwischen 1933 und 1945 einmal wohnten, zeigen: Es geschah nicht irgendwo, sondern unter uns. Die Ermordeten, Inhaftierten und Geflohenen sind nicht mehr nur Statistik.

Die Lettkemanns lassen vor dem Haus Silcherstraße 2 Steine für eine Schwanheimer Familie legen: die Eltern Johanna (*11. August 1896) und Georg Simon (*4. März 1889) sowie deren Kinder Ernst (*2. Februar 1927) und Ellen (*1. September 1931). Die vier hatten Glück, sie überlebten. Das drückt aus, wie relativ man den Begriff betrachten muss: Es ist kaum Glück zu nennen, die Heimat verlassen zu müssen, weil eine krude Ideologie Menschen die Lebensgrundlage entzieht. Denn auf der Grundlage der „Arierbestimmungen“ entzogen die Nazis 1933 dem jüdischen Zahnarztpaar Johanna und Georg Simon die Kassenzulassung. Der Hartmannbund, schon 1900 gegründeter Verband der Ärzte, an den sich Georg Simon gewendet hatte, wollte nicht helfen.

Herausgerissen aus dem Alltag

Ein paar Meter von der bisherigen eigenen Wohnung, an der Silcherstraße 28, hatten die Simons schon angefangen, ein Haus zu bauen. Die Weiterführung dieses Bauprojekts wurde ihnen von Amts wegen verboten. Der Versuch, an der Schwindstraße 12 eine Praxis für Privatpatienten aufzubauen, scheiterte in der Atmosphäre des Nazi-Boykott-Aufrufs „Kauft nicht bei Juden!“.

In Sossenheim betrieb das Ehepaar Simon noch eine Praxis an der Schaumburger Straße. Der ist es zu verdanken, dass die Familie nicht in Vergessenheit geriet, denn der Stadtteil-Historiker Heinz Hupfer, Verfasser einer Chronik von Sossenheim, forschte zum Werdegang der Schwanheimer Zahnärzte.

Für die Simons bedeutete der 26. Dezember 1936 den Abschied von allem. Mit dem Geld aus einer aufgelösten Lebensversicherung buchte die vierköpfige Familie Passagen auf der „Monte Rosa“, einem Schiff der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschifffahrtsgesellschaft: Buenos Aires hieß das Ziel.

Das Foto der Familie, das an dem Tag jemand aufgenommen hat, verdeutlicht die unterschiedlichen Welten von Kindern und Erwachsenen: Aus den Gesichtern des neunjährigen Ernst und der fünfjährigen Ellen sprechen Abenteuerlust und Unbedarftheit, aus denen der Eltern deprimierte Ungewissheit.

Fern der Heimat durften die Eheleute wieder nicht in ihrem Beruf arbeiten, weil sie keine argentinischen Approbationen erhielten. Johanna Simon praktizierte dennoch, fiel jedoch einer Denunziation zum Opfer. Dr. Georg Simon fand im Februar 1937 in Buenos Aires eine Stelle als Büroangestellter. Er starb 1962, Dr. Johanna Simon 13 Jahre später. Sohn Ernst wurde Zahnarzt und starb 2007, Tochter Ellen Naturwissenschaftlerin; sie starb 2019. Die beiden Simon-Kinder bekamen selbst jeweils dreimal Nachwuchs.

„Die Simons waren eine kleine Familie, wie wir es sind“, erklärt der 38 Jahre alte Danny Alexander Lettkemann, warum es ihm leicht falle, sich mit ihnen zu identifizieren. Das Thema Judenverfolgung beschäftige außerdem gerade seinen zehnjährigen Sohn, der ein Referat über Anne Frank vorbereite.

Dr. Martin Dill kündigt an, die ersten vier Schwanheimer Stolpersteine würden am 1. Juli um 13 Uhr „als Mahnmal für die Erinnerung und gegen das Vergessen“ in der Silcherstraße 2 in Schwanheim enthüllt. In den Bürgersteig eingelassen werden sie von Mitarbeitern der FES bereits ein paar Tage zuvor. Am selben Wochenende enthüllt die Frankfurter Initiative insgesamt 13 neue Stolpersteine in ganz Frankfurt. Insgesamt sind es zurzeit gut 1900. „In Frankfurt gibt es Grund für 60 000“, schätzt Dill. Danny Alexander Lettkemann ist guter Dinge, dass an der Enthüllung der Steine in Schwanheim ein Nachfahre der Familie Simon teilnehmen wird. Stefan Mangold

Dem Schwanheimer Zahnarzt-Ehepaar Georg und Johanna Simon und ihren Kindern Ernst und Ellen gelang die Flucht auf einem Dampfer nach Argentinien.
Dem Schwanheimer Zahnarzt-Ehepaar Georg und Johanna Simon und ihren Kindern Ernst und Ellen gelang die Flucht auf einem Dampfer nach Argentinien. © Initiative Stolpersteine Frankfu

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