Einen Schritt vor den anderen
Für einige Stunde Ruhe haben, völlig auf sich selbst gestellt sein, alles aus der Hand geben. In der schnelllebigen Welt suchen viele Menschen nach Entschleunigung. Eine Möglichkeit ist das Pilgern. Spätestens seit Hape Kerkeling Millionen Leser mit den Erlebnissen seiner Tour nach Santiago de Compostela begeistert hat, ist das Pilgern auf dem Jakobsweg aktueller denn je. Auch durch Frankfurt führt der berühmte Camino. Amelie Buskotte von Presse- und Informationsamt der Stadt hat Pilger begleitet.
Bunte Rucksäcke, Wanderstöcke, regendichte Kleidung und festes Schuhwerk – damit ausgerüstet stehen sechs Frauen und Männer vor der Leonhardskirche. Dass sie Pilger sind, sieht man auf den ersten Blick, tragen sie doch alle die Jakobsmuschel – das Zeichen der Pilger – am Rucksack oder um den Hals. „Damit erkennt uns jeder, wir werden oft unterwegs angesprochen“, sagt Christiane Kohn. Sie und ihr Mann Karl-Heinz sind gemeinsam mit weiteren Pilgerbegeisterten seit einigen Jahren immer wieder unterwegs. Ob in Etappen nach Santiago de Compostela, dem Ort in Spanien, an dem der berühmte Jakobsweg endet, oder bei Tagestouren durch Deutschland. Dass sie sich an diesem Sonntagmorgen an der Leonhardskirche unweit des Eisernen Stegs treffen, ist kein Zufall, denn der Jakobsweg führt auch durch Frankfurt. „Frankfurt ist und war wichtig für die Pilger. Einige Wege führen direkt durch die Stadt“, weiß Karl-Heinz Kohn.
Start Leonhardskirche
Die Leonhardskirche aus dem Jahr 1219 zeugt von dieser Tradition. In der Kirche erkenne man noch heute ein zugemauertes Pilgerportal. „Hier sind früher die Pilger für ihre Reise gesegnet worden“, erklärt Karl-Heinz Kohn. Über die Alte Brücke ging es dann weiter am Main entlang Richtung Santiago de Compostela. Richtung Jerusalem – ebenfalls beliebtes Ziel – führte auch ein Weg. Kirchendezernent Uwe Becker weist auf die vielen Pilgerpfade, die durch Frankfurt verlaufen, hin: Die Bonifatiusroute, die von Mainz über Frankfurt nach Fulda führt, oder den Elisabethenpfad von Frankfurt nach Marburg. „Wer mit offenen Augen durch die Stadt geht, findet auch heute noch Verbindungen zu diesen Wegen. Beispielsweise die Figurengruppe der drei Pilger auf dem Platz vor der Kirche St. Leonhard oder die Schilder, die seit dem 1. Juli an verschiedenen Orten der Stadt auf den Verlauf des Lutherweges durch die Mainmetropole hinweisen“, sagt er.
Kohn ist seit gut zehn Jahren immer wieder auf Tour. An das überwältigende Gefühl, als er das erste Mal in Santiago de Compostela ankam, kann er sich noch gut erinnern. „Es ist ein Schock und ein Traum zugleich, wenn man plötzlich aufhört zu laufen“, sagt er. Der Gedanke, sich auf den Weg zu machen, war eigentlich eine „Schnapsidee“ aus der katholischen Erwachsenenbildung heraus, in der er seit Jahren aktiv ist. Daraus geworden sind zahlreiche Pilgertouren und die Hessische St. Jakobusgesellschaft, die sich 2014 in Frankfurt gegründet hat. Mit etwa 70 Mitgliedern ist sie eine der kleinsten Jakobusgesellschaften in Deutschland. „Wir freuen uns immer über Nachwuchs“, sagt Christiane Kohn, die gemeinsam mit ihrem Mann schon weit mehr als 2000 Kilometer gewandert ist.
Ökumenische Idee
„Wir sind eine ökumenische Gemeinschaft, die die Tradition des Pilgerns vermitteln und bewahren will. Wir bieten Beratung und Touren an“, erklärt Kohn das Ziel der Vereinigung. In ganz Deutschland und in vielen Teilen Nord- und Südeuropas gibt es Jakobusgesellschaften, benannt nach einem der zwölf Apostel Jesu, der der Legende nach in der spanischen Stadt Santiago de Compostela begraben ist. Er gilt als Patron der Pilger und wird mit einer Jakobsmuschel am Hut oder an der Hose dargestellt, weshalb die Muschel heute das Symbol der Pilger ist.
Neben Beratung und Information pflegen die Jakobusgesellschaften die Wege und geben Pilgerpässe aus. Um zu beweisen, dass man die Kilometer auch wirklich zurückgelegt hat, trägt jeder Pilger einen solchen Ausweis mit sich und lässt sich in jeder Stadt einen Stempel geben. In Frankfurt können sich Pilger ihren Stempel im Haus am Dom und in der Pfarrei St. Jakobus, die sich 2015 aus drei bestehenden Gemeinden in Frankfurt neu gegründet hat, abholen – und in der Justinuskirche in Höchst, die auf dem Pilgerweg in Richtung Mainz liegt. Benannt ist die Pfarrei St. Jakobus übrigens ebenfalls nach dem Jakobsweg, der an allen drei Kirchorten – Mutter vom guten Rat in Niederrad, St. Johannes in Goldstein und St. Mauritius in Schwanheim – entlang führt.
Für Karl-Heinz Kohn ist die besondere Art der Wanderschaft die ideale Abwechslung zum Alltag. „Ich bin jemand, der gern alles in der Hand hat“, sagt der Mann, der in der IT einer großen Bank im Frankfurter Westen arbeitet. „Beim Pilgern kann ich das nicht.“ Das Wetter, der Weg, der Schlafplatz seien gegeben, damit müsse man unterwegs zurechtkommen. „Das entschleunigt total. Wenn ich unterwegs bin, reduzieren sich meine Gedanken ziemlich schnell auf das Wesentliche. Irgendwann zählt nur noch der nächste Schritt, die nächste Unterkunft, das nächste Essen.“
Menschen, die das Pilgern ausprobieren wollen, rät Karl-Heinz Kohn mit kleinen Touren anzufangen. „Die Strecke von Fulda nach Frankfurt auf der Bonifatiusroute bietet sich an, sie ist gut ausgeschildert und geht entlang vieler Bahnhöfe“, sagt er. So könne man zur Not mit der Bahn zurückfahren. „Da muss man pragmatisch sein, zu viel vornehmen nützt auch nichts.“ Damit man auch in Frankfurt den richtigen Weg findet, hat die Hessische St. Jakobusgesellschaft jetzt damit begonnen, den Camino durch Frankfurt mit der berühmten Muschel zu kennzeichnen. Dann kann niemand in der Großstadt mehr vom Weg abkommen. Einen weiteren Tipp hat seine Frau für Neueinsteiger: Mehr als zehn Kilo dürfe der Rucksack nicht wiegen. „Da fängt so mancher an und wiegt seine Unterwäsche“, sagt sie lachend. „Einige schneiden sogar den Stiel ihrer Zahnbürste ab, um Gewicht zu sparen.“