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Engpass in Frankfurt: Viele Medikamente nicht mehr lieferbar

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Von: Sarah Bernhard

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Immer öfter steht Lisa Schirmer im Lager Arnsburg-Apotheke vor leeren Fächern. Aktuell sind 283 Medikamente nicht lieferbar.	foto: leonhard Hamerski
Immer öfter steht Lisa Schirmer im Lager Arnsburg-Apotheke vor leeren Fächern. Aktuell sind 283 Medikamente nicht lieferbar. © ftv-Hamerski

Nicht nur Patienten, auch die Frankfurter Apotheker sind genervt: Immer mehr Medikamente sind kurz- oder mittelfristig nicht mehr lieferbar. Aber warum eigentlich? Die Spur führt von Frankfurt über Eschborn nach China, von dort nach Berlin und wieder zurück. Und zeigt, dass der internationale Gesundheitsmarkt dem Wohl der Patienten bisweilen eher ab- als zuträglich ist.

Frankfurt -Lisa Schirmer ist frustriert. 283 Medikamente, die die Apothekerin auf Lager haben müsste, sind im Moment nicht lieferbar. Viele Kunden muss sie deshalb mit leeren Händen wieder nach Hause schicken. Und die Arnsburg-Apotheke in Bornheim ist kein Einzelfall. Egal ob Schloss-, Titus- oder Hans-Thoma-Apotheke: Überall klagen Apotheker über die unbefriedigende Situation. "Viele Kunden verstehen gar nicht, dass nicht wir die Schuldigen sind. Manche denken sogar, wir wollen ihnen nichts verkaufen", sagt Schirmer. Dabei würde sie nichts lieber tun als das. Doch immer häufiger kann kein einziger Hersteller liefern.

Der Hauptgrund: der globale Markt. Ob Blutdrucksenker, Antidepressiva oder Schmerzmittel: Die Produzenten für die meisten Wirkstoffe sitzen in Indien oder China. Da der Kostendruck enorm hoch ist, produzieren sie genau die Menge, die bestellt wurde. Puffer oder Alternativprodukte gibt es oft nicht. "Dann kommen die Nebenstoffe aus Südamerika, verpackt wird vermutlich in Osteuropa. Man braucht kein Logistikexperte zu sein, um zu sehen: Wenn es irgendwo klemmt, steht die Produktion still", sagt Holger Seyfarth, Schirmers Chef und gleichzeitig der Vorsitzende des Hessischen Apothekerverbands.

Dass es zu Engpässen kommt, wie Seyfarth sie "in 35 Jahren nicht gesehen" hat, hat aber noch einen anderen Grund: In einigen Medikamenten wurden in den vergangenen Monaten krebserregende Substanzen nachgewiesen. Es begann im Sommer 2018 mit bestimmten blutdrucksenkenden Mitteln, im Lauf des vergangenen Jahres kamen Medikamente gegen Sodbrennen und Diabetes dazu. In solchen Fällen fehlen den Apotheken nicht nur die verunreinigten Chargen. "Die Produzenten müssen zudem ihre Produktion umstellen, um den Fehler zu beheben, und können deshalb über einen längeren Zeitraum nicht liefern", sagt Mona Tawab. Sie ist die stellvertretende wissenschaftliche Leiterin des Zentrallaboratoriums Deutscher Apotheker in Eschborn, das einige der Verunreinigungen als erstes bestimmt hat.

Frankfurt: Risiken bei Produktion außerhalb der EU

Wenn Wirkstoffe außerhalb der EU produziert werden, berge das Risiken: Zwar werde die Wirkstoffproduktion in China regelmäßig kontrolliert. Da unangekündigte Kontrollen aber nur Momentaufnahmen seien, auf die sich die Hersteller wegen der Visumspflicht auch noch bestens vorbereiten könnten, sei man auf deren Kooperationsbereitschaft angewiesen. "Doch kulturelle Unterschiede machen es schwer, in China europäische Standards zu etablieren." Deshalb fordert Tawab: "Die Wirkstoffproduktion muss zurück nach Europa, um die Qualität zu sichern."

Doch selbst innerhalb Europas haben es deutsche Apotheker schwer. Denn anders als in anderen Ländern schließen die Medikamentenhersteller in Deutschland exklusive Rabattverträge mit den Krankenkassen ab, das günstigste Angebot gewinnt. 4,5 Milliarden Euro haben die deutschen Krankenkassen so alleine im Jahr 2018 gespart.

Bei Lieferengpässen führt das aber zu zusätzlichen Problemen: Fällt der gewählte Hersteller aus, können die konkurrierenden Unternehmen entweder gar nicht liefern, weil sie keine Kapazitäten eingeplant haben - oder sie liefern an Apotheken in Ländern, die besser zahlen, etwa Großbritannien oder Norwegen. Wenn dann doch jemand an Deutschland liefert, kann sich die Krankenkasse weigern, die Kosten fürs Ersatzpräparat zu übernehmen. Stimmt sie doch zu, und der Patient bekommt endlich sein Medikament, kann das Ersatzpräparat unerwartete Neben- oder Wechselwirkungen verursachen. Vor allem bei Menschen, die mehrere, aufeinander abgestimmte Medikamente nehmen.

Frankfurt: "Ein enormer Zeitaufwand"

Und damit zurück zu Lisa Schirmer von der Arnsburg-Apotheke. "Für uns ist das ein enormer Zeitaufwand", sagt sie. Ein, zwei Minuten, um zu schauen, ob ein Hersteller liefern kann. Noch mal zwei Minuten, um dem Kunden zu erklären, was überhaupt das Problem ist. "Wenn es zum Beispiel ältere Menschen sind, die nicht verstehen, warum ihr Medikament plötzlich anders aussieht, besteht die Gefahr, dass sie es gar nicht nehmen. Da rufe ich zur Sicherheit lieber den Arzt an und kläre das." Rund 20 Prozent der Arbeitszeit gingen dafür drauf - oft ohne, dass sie dabei einen einzigen Cent verdient hat.

Ändern, da sind sich alle einig, kann diese Zustände nur die Politik. Und tatsächlich hat Gesundheitsminister Jens Spahn einen Anhang zum geplanten "Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der GKV" vorgelegt, der das Vorgehen bei Lieferengpässen regeln soll. Pharmazieunternehmen sollen künftig dazu verpflichtet werden können, drohende Lieferengpässe zu melden und größere Lager zu schaffen.

Apotheker sollen nach 24 Stunden automatisch auch Medikamente von Herstellern ausgeben dürfen, mit denen die betreffende Krankenkasse keine Rabattverträge hat. Und Spahn will einen Beirat gründen, der die Arzneimittelversorgung enger überwacht.

Im vergangenen Dezember wurde der Anhang im Gesundheitsausschuss beraten. Das heißt, die Phase, in der Lobbyisten Einwände erheben können, kommt erst noch. Und die haben bereits erbitterten Widerstand angekündigt. Lisa Schirmers Euphorie ist deshalb eher gedämpft. "Mal abwarten, ob das alles so kommt. Oder ob überhaupt etwas kommt", sagt sie. Und sucht für den nächsten Kunden ein Ersatzprodukt.

Viele Kunden verstehen gar nicht, dass nicht wir die Schuldigen sind. Manche denken sogar, wir wollen ihnen nichts verkaufen.

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