Majer verabschiedet sich: „Es war die intensivste, forderndste Zeit meines Lebens“
Nur noch wenige Tage im Amt: Der scheidende Frankfurter Mobilitäts- und Gesundheitsdezernent Stefan Majer über sein Wirken und mutige Entscheidungen.
Frankfurt – Nach 30 Jahren in der Politik geht der Frankfurter Mobilitäts- und Gesundheitsdezernent Stefan Majer (Grüne) Ende der Woche in den Ruhestand. Im Gespräch mit den Redakteuren Sarah Bernhard und Dennis Pfeiffer-Goldmann zieht er Bilanz.

Herr Majer, was waren als Dezernent die zwei wichtigsten Projekte?
Die Regionaltangente West aus dem Stadium eines kühnen Projektes, an das niemand richtig geglaubt hat, zu einem Projekt im Bau zu bringen. Und der Neubau des Klinikums Höchst, der die Voraussetzung dafür ist, dass das größte Krankenhaus in kommunaler Hand weit und breit den heutigen Anforderungen an eine gute Medizin und Pflege auch baulich gerecht wird.
Und die schwierigsten Entscheidungen?
Eine war es, das Brücken-PPP, das ich, als ich 2011 Dezernent wurde, übernommen habe, zu beenden. Also den Plan, 170 Frankfurter Brücken mit Hilfe privater Partner zu sanieren. Es gab gute Argumente dafür, aber das Projekt war nicht mehr beherrschbar. Ich habe entschieden, stattdessen im Amt für Straßenbau und Erschließung eine Brückenbauabteilung aufzubauen. Aus heutiger Sicht hat die Stadt dadurch viel Geld gespart. Ebenfalls sehr schwierig war die Zeit als Leiter des Corona-Verwaltungsstabs, beginnend von der Absage von Eintracht-Spielen bis hin zu massiven Eingriffen in berufliche und private Existenzen, ohne dass ich auf gesicherte Erkenntnisse zurückgreifen konnte. Da hieß es, jeden Tag neu zu lernen und Verantwortung zu übernehmen, ohne permanent darüber nachzudenken, wie ich am besten dastehe.
Bei welcher Entscheidung waren Sie besonders mutig?
Die eine war im Sommer vergangenen Jahres, als die Fahrpreise für den ÖPNV erhöht wurden. Da sind Sozialdezernentin Elke Voitl und ich ins Risiko gegangen und haben die Preise für Frankfurt-Pass-Berechtigte stark abgesenkt. Wir wussten nicht, ob wir das finanziell hinkriegen, aber wir haben es geschafft. Die andere Entscheidung war in meiner ersten Zeit als Verkehrsdezernent. Jedes Magistratsmitglied musste einen Konsolidierungsbeitrag erbringen, es gab eine Vorentscheidung, dass die Straßenbahn in der Stresemannallee gestrichen werden sollte. Ich musste von einer Minute auf die andere eine Ersatzlösung vorbringen und habe stattdessen den städtischen Zuschuss fürs Parkhaus der TG Bornheim gestrichen. Das hat mir viel Ärger eingebrockt. Aber heute ist die Straßenbahn ein voller Erfolg und Voraussetzung für eine Verlängerung Richtung Langen, und das Parkhaus ist auch ohne städtische Zuschüsse gebaut worden.
Und wo wären Sie gerne mutiger gewesen?
Bei Projekten des „Schöneren Frankfurts“, die mit dem Leitbild der steinernen Stadt geplant wurden, etwa dem Atzelberg- und dem Buchrainplatz, hätte ich sagen sollen: Das baue ich so nicht!
Hat es Ihnen politisch Nachteile gebracht, dass Sie Männer lieben?
Da ich damit nie hinter dem Berg gehalten habe, glaube ich, dass sich viele ihre Diskriminierungen nur gedacht haben. Kaum jemand hat es je gewagt, mich sexistisch anzumachen. Das war nur vor der Politik, als ich in Württemberg Pfarrer werden wollte und mehr oder minder explizit den Stuhl vor die Tür gesetzt bekam. Bei manchen CSD-Paraden musste ich mir auch sagen lassen, dass es schade ist, dass Hitler mich heute nicht mehr vergasen könne.
Frankfurter Dezernent Majer über seine Pläne für den Ruhestand
Wie ist die heutige Situation für Lesben und Schwule?
Es ist viel erreicht worden, auch vieles, an dem ich mitgearbeitet habe. Ich mache seit 1977 Emanzipationsarbeit, aber vor allem die von Aids geprägten 1980er- und 1990er-Jahre haben eine Veränderung des gesellschaftlichen Klimas herbeigeführt, die die Grundlage für die Homoehe und vieles mehr war. Dass es heute viele gewalttätige Übergriffe auf queere Menschen gibt, ist Teil einer gesellschaftlichen Eskalation. Minderheiten haben sich schon immer als Sündenböcke geeignet.
Was sind Ihre Pläne für den Ruhestand?
Ich habe vor einigen Jahren wieder Wege mit meiner evangelischen Kirche gefunden und arbeite im Vorstand der evangelischen Kirche Frankfurt und Offenbach mit. Seit vergangenem Jahr bin ich auch Mitglied der Landessynode und beschäftige mich dort zum Beispiel mit sanierungsbedürftigen romanischen Kirchen in Rheinhessen. Da ich Enkel eines Architekten bin, schließen sich da ein paar Kreise. Was dazukommt: Ich bin begeisterter Hobbygärtner und habe endlich Zeit für Schwertlilien und Pfingstrosen. Mein Mann übernimmt Tomaten und Spitzkohl.
Warum haben Sie sich so stark für den Ausbau des Radverkehrs engagiert?
Seit ich Fahrradfahren kann, ist das mein zentrales Verkehrsmittel gewesen, selbst während meines Zivildienstes in Jerusalem. Ein Punkt, der mich existenziell motiviert hat, ist sicher, dass ich vor 30 Jahren einen beinahe tödlichen Unfall hatte. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs und ein Autofahrer hat die Tür geöffnet, weil er „nur mal schnell was einkaufen“ wollte. Ich habe bis heute eine nicht mehr funktionierende rechte Hand und bin schwerbehindert. Ich habe das nie an die große Glocke gehängt, aber deshalb ist für mich zum Beispiel die Ghost-Bike-Initiative so wichtig. Bei der Sicherheit im Straßenverkehr geht es aber um mehr. Ich erinnere mich gut an einen entsetzlichen Unfall in Höchst, als an einer grünen Fußgängerampel ein Kind vorneweg gerannt ist und vor den Augen der Mutter und des Geschwisterchens totgefahren wurde. Wir haben in kürzester Zeit einen kombinierten Rotlicht- und Geschwindigkeitsblitzer aufgestellt. Das hat mich geprägt, ich fühle mich diesen Menschen zutiefst verpflichtet.
Geben Sie mal ein Urteil über die Frankfurter Radfahrer ab.
Es gibt viel zu viele Menschen, die rücksichtslos unterwegs sind, und die sich wie andere gefährden. Der Unterschied ist, dass sie im Auto einen Airbag und einen größeren Sicherheitsraum haben, auf dem Fahrrad nicht. Ich ärgere mich schwarz, wenn ich durch die Stadt fahre und gehe und dieses Verhalten beobachte, und hätte jedes Mal gute Lust, einen nach dem anderen anzusprechen, ob sie eigentlich wahnsinnig sind. Rücksichtsloses Verhalten ist übrigens auch bei Fußgängern zu beobachten, wenn sie zum Beispiel an der roten Ampel rübergehen, obwohl Kinder da sind. Die Verkehrsregeln gelten für alle.
Bei einigen Verkehrsprojekten wie dem Oeder Weg oder dem Mainkai gab es starken Gegenwind. Warum?
Wenn sich Dinge ändern, melden sich immer mehr Menschen, die gegen etwas sind, als Menschen, die für etwas sind. Wenn Menschen heute anders mobil sind, müssen wir den begrenzten Straßenraum umverteilen. Das geht nicht, ohne dass manche etwas abgeben müssen. Es ist unsere politische Aufgabe, diese Menschen argumentativ zu erreichen und zumindest einen Teil davon mitzunehmen. Das ist bei den genannten Projekten schwierig. Oft schaukelt sich die Diskussion so hoch, dass es kaum mehr möglich ist, vernünftig miteinander zu reden. Da war es mir immer wichtig, sachlich und kompromissbereit zu bleiben, denn unsere Straßen sind für alle da. Dass wir heute bei Veränderungen mutiger sind als in meiner ersten Wahlperiode, liegt daran, dass wir durch den Radentscheid einen anderen parlamentarischen Auftrag haben. Da kann ich nicht sagen: Okay, das kümmert mich jetzt nicht. Wenn Beschlüsse gefallen sind, gelten sie. Beim Riederwaldtunnel, bei ÖPNV-Projekten und eben im Oeder Weg. Die fahrrad- und fußgängerfreundliche Umgestaltung hängt aber nicht am einzelnen Parkplatz. Da sind immer Kompromisse möglich, und ich bin Pragmatiker.
Frankfurter Dezernent Majer über seine Verkehrs- und Gesundheitspolitik
Wenn Sie Ihre Verkehrspolitik betrachten: Was hätten Sie besser machen können?
Ich bin im Großen und Ganzen ziemlich zufrieden.
Der Radverkehr alleine wird die Menschen nicht aus den Autos holen. Was muss die Politik noch tun?
Das Schienennetz ausbauen. Viele Leute glauben noch immer nicht, dass jetzt die S6, die Nordmainische S-Bahn, die Regionaltangente West oder die Stadtbahn ins Europaviertel tatsächlich kommen. Dafür haben wir in den vergangenen Jahren hart gearbeitet, und jetzt sieht man die Erfolge. Das gilt übrigens auch für Bahnprojekte, die die wenigsten Leute kennen. Etwa 60 Prozent aller Fernverkehrszüge fahren durchs Rhein-Main-Gebiet. Ohne den Ausbau des Eisenbahnknotens am Stadion stockt der Ausbau des Fernverkehrs in ganz Deutschland. Bis die ersten Züge fahren, passiert aus Sicht der Menschen entweder gar nichts, oder es wird sogar noch schlimmer, weil es unzählige Baustellen und Schienenersatzverkehre gibt.
Als Gesundheitsdezernent sind Sie während der Corona-Pandemie angefeindet worden und haben Morddrohungen bekommen. Wie beurteilen Sie diese Zeit?
Es bedeutet mir durchaus etwas, meine Pflichten in schwierigen Zeiten erfüllt zu haben. Wenn man in der Verantwortung steht, kann man sich das nicht raussuchen, man muss ihr gerecht werden. Corona kam, keiner hatte es gelernt, als Leiter des Verwaltungsstabs bekam ich viele verschiedene Ratschläge zu hören. Es gab ja nie nur eine Meinung, aber am Ende musste ich entscheiden und dann auch den Kopf dafür hinhalten. Und obwohl ich an vielen Stellen nicht der gleichen Meinung bin wie der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn, muss ich seine Aussage, dass wir uns nach Corona vieles werden verzeihen müssen, auch für mich in Anspruch nehmen.
Was denn zum Beispiel?
Zum Beispiel das Hin und Her um das Eintracht-Spiel. Da gab es eine Videokonferenz aller deutschen Städte mit Erst- und Zweitliga-Vereinen, um Regeln für den Stadionbesuch aufzustellen. Mein Prinzip war: Die Regeln fürs Abseits sind überall gleich, also müssen auch die Corona-Regeln überall gleich sein. Wir haben zunächst entschieden, dass die Spiele vor Publikum stattfinden können. Am nächsten Tag gab es eine anderslautende Entscheidung des Landes, ich musste meine Aussage direkt revidieren. Auch das gehört dazu.
Im Nachhinein hat sich die Haltung des Frankfurter Gesundheitsapparats als relativ realitätsnah herausgestellt: Sich draußen zu versammeln, wäre okay gewesen, Schulen waren keine Pandemietreiber ...
Es war immer eine Gratwanderung. Ich glaube, dass wir dabei in Frankfurt im richtigen Korridor waren.
Frankfurter Dezernent Majer über seine Fehler
Ziel der Fusion des Klinikums Höchst mit den Kliniken in Hofheim und Bad Soden war, dass Höchst ab 2020 schwarze Zahlen schreibt. Das ist bis jetzt nicht der Fall. War die Fusion ein Fehler?
Nein, im Gegenteil. Wenn ich Herrn Bergerhoff beim Thema Kliniken auch künftig noch beratend zur Seite stehen werde, dann um diesen richtigen Weg fortzusetzen. Wir haben gegenwärtig die schwierigste Situation für Krankenhäuser, die wir in den Jahrzehnten, die ich überblicken kann, jemals hatten. Dass ein Drittel aller deutschen Krankenhäuser von Insolvenz bedroht ist, ist Realität. Jedes Krankenhaus, das ich kenne, kämpft ums Überleben. Das Fatale ist, dass die vielen Fortschritte, die der Klinikverbund seit der Fusion gemacht hat, durch die jetzigen Rahmenbedingungen vom Tisch gefegt wurden.
Welche Fortschritte?
Es gab einen ziemlichen Reformstau, der aufgelöst werden musste, und das haben die Geschäftsführer gut auf den Weg gebracht. Viele Dienstleistungen werden jetzt gemeinsam erbracht, medizinische Schwerpunkte abgesprochen. Die Situation unseres gemeinsamen Klinikums bleibt außerordentlich schwierig. Es gibt aber eine klare Aussage beider Gesellschafter: dass sie zum Klinikum stehen und alle erforderlichen Schritte ergreifen werden. Und der Neubau ist natürlich ein wichtiger Beitrag, um in dieser Krise bestehen zu können.
Sie sind ja auch für die Frankfurter Drogenpolitik zuständig. Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Arbeit?
In diesem Bereich wird man nie zufrieden sein können, denn eine Suchterkrankung ist eine der schwierigsten Situationen überhaupt. Ich will nicht ablenken, wenn ich sage: Heute sterben mehr als 100 Menschen jedes Jahr nicht, weil in den vergangenen 30 Jahren im Bahnhofsviertel grundlegend neue Angebote aufgebaut wurden. Aber jetzt müssen die Konzepte weiterentwickelt werden.
Hätte das nicht schon viel früher passieren müssen? Immerhin ist Crack, das viele Probleme geschaffen hat, seit 2012 die dominierende Droge im Bahnhofsviertel.
Wir haben ja bereits eine Vielzahl von Crack-spezifischen Hilfsangeboten geschaffen. Vor 20 Jahren haben wir begonnen, OSSIP auf den Weg zu bringen, seit vielen Jahren gibt es Rauchräume und Tagesruheplätze, alles unter dem Gesichtspunkt Crack. Viele aus dem Viertel sagen ja auch, wenn das Bahnhofsviertel wäre wie vor fünf Jahren, wäre es okay. Besonders während Corona hat sich aber die Situation verschärft. Dieser Problemdruck zwingt uns, wesentlich umfassender ranzugehen. Wir brauchen hier immer eine gute Zusammenarbeit zwischen Ordnungskräften und sozialen Hilfen, alleine kann keiner die Probleme lösen. Deshalb bin ich dankbar für die enge Zusammenarbeit mit der Polizei.
Was bereuen Sie?
Ich bereue, wenn ich Menschen in diesen 30 Jahren in der Politik und zwölf Jahren des Dezernentenseins persönlich verletzt haben sollte. Da möchte ich um Entschuldigung bitten. Ansonsten war es die intensivste, forderndste Zeit meines Lebens, eine Zeit, in der ich (ringt nach Worten) meiner Verantwortung gerecht werden wollte. Ich war früher ein paar Jahre arbeitslos, es hat Zeiten gegeben, in denen ich nicht mal gewusst habe, ob ich überhaupt das Rentenalter erreiche. Dass ich dann die Möglichkeit bekommen habe, notwendige Veränderungen in Frankfurt zu gestalten, ist etwas, für das ich dankbar bin. Deshalb bereue ich den Stress dieser zwölf Jahre überhaupt nicht. Aber es ist auch gut, wenn es jetzt zu Ende geht.
Wie wollen Sie den Menschen in Erinnerung bleiben?
(überlegt) Als jemand, der nachhaltig etwas bewegt hat. Und als jemand, der auch schwierigen Themen und schwierigen Situationen nicht ausgewichen ist.
Das Gespräch führten Sarah Bernhard und Denis Pfeiffer-Goldmann.