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Europaviertel: "Schön ist was anderes"

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Sofia Niklas und ihr Vater Jan auf dem Kinderspielplatz neben ihrem Mietshaus in der Europaallee 124. Der Spielplatz erfüllt die vorgegebenen Mindestmaße ? in diesem Fall für ein Haus mit 140 Parteien. Sofia spielt hier nie. Ihr Vater sieht in dem Sandkasten ein Symbol für das Europaviertel. Kein Millimeter ist fürs Geschäft drangegeben worden.
Sofia Niklas und ihr Vater Jan auf dem Kinderspielplatz neben ihrem Mietshaus in der Europaallee 124. Der Spielplatz erfüllt die vorgegebenen Mindestmaße ? in diesem Fall für ein Haus mit 140 Parteien. Sofia spielt hier nie. Ihr Vater sieht in dem Sandkasten ein Symbol für das Europaviertel. Kein Millimeter ist fürs Geschäft drangegeben worden. © Salome Roessler

An lauen Abenden stellt sich bei Familie Niklas dann doch das Wohnglück ein. Vor vier Jahren ist sie ins Europaviertel gezogen. Das zweite Kind war unterwegs, die drei Zimmer im Bockenheimer Altbau

An lauen Abenden stellt sich bei Familie Niklas dann doch das Wohnglück ein. Vor vier Jahren ist sie ins Europaviertel gezogen. Das zweite Kind war unterwegs, die drei Zimmer im Bockenheimer Altbau drohten zu klein zu werden, was Größeres musste her. In der Europaallee bot sich eine Chance. Und dann standen Steuerberater Jan und Ärztin Swetlana eines Tages vor ihrem neuen Heim und wussten nicht so recht, ob das die geeignete Kulisse für den Neuanfang sein sollte.  

Direkt vor der Europaallee 124 grub schweres Baugerät den Autotunnel aus, die mickrigen Bäumchen entlang der breiten Bürgersteige betonten das kahle Unfertige. Der hauseigene Spielplatz an der Pariser Straße, immerhin für Kinder aus 140 Mietparteien, bestand aus einem Sandkasten, kaum größer als eine Tischtennisplatte. Und die Fassaden überall warfen die Sonnenstrahlen mit solcher Wucht zurück, dass Jan Niklas geblendet war. Im grellen Licht, sagt er, wirke alles noch eintöniger: Wo man hinschaut heller Stein, so makellos, als wäre das Viertel mit Sagrotan geschrubbt.

Heute ist der Tunnel fertig, das immerhin. Aber sonst? „Wir mieten hier, aber wir sind hier nicht daheim“, sagt Jan Niklas, 40. Swetlana Niklas, 36, behilft sich mit Selbsttäuschung: „Unsere Postleitzahl gehört zu Bockenheim, wir sind Bockenheimer“, sagt sie und muss selbst mal lachen. Die Gründerzeithäuser, die begrünten Hinterhöfe, das pulsierende Geschäfts- und Kneipenleben: Swetlana Niklas ist froh, dass Bockenheim um die Ecke liegt. Auf begrünte Innenhöfe, zur Pariser Straße hin offen, kann Familie Niklas auch heute hinabschauen. Nur darf sich da keiner mehr aufhalten, Mieter haben sich über Lärm beschwert. Hier und da bestätigen die Menschen selbst den zweifelhaften Ruf ihrer Umgebung.

„Lebendig eingesargt“

Aber jenseits des menschlichen Makels: Ist Frankfurts seit der Jahrtausendwende auf den ehemaligen Gütergleisen der Deutschen Bahn entstandenes Megaprojekt tatsächlich so missraten, wie Kulturkritiker und Architekten einmütig urteilen? „Klötzchengeschiebe“, ätzte etwa die Süddeutsche Zeitung über die zueinander bezugslosen Wohnwürfel und schob hinterher: Wer das nicht als trostlos wahrnehme, sei schon lebendig eingesargt. Was aber sagen die, die am Viertel mitgewirkt haben? Und finden auch die Menschen, die hier wohnen, tatsächlich nichts schön? Umfrage auf der Straße. Zwei Schüler, eine Mutter, ein Banker, eine Bahn-Mitarbeiterin, ein Geschäftsinhaber. Ergebnis: quadratisch, praktisch, gut. „Aber schön? Schön ist anders!“

Anna Pause findet das Europaviertel irgendwie schon schön. Sie mag ihre Joggingstrecke durch den Europagarten und die Grünanlagen; sie mag die Sportanlage mit Fitnessgerüsten an der Grenze zum Rebstock. Vor allem mag die junge Kriminalbeamtin die Nähe zum Gallus, in dem sie wohnt und Politik macht und zu dem das Europaviertel gehört.

Anna Pause, 26, ist Sozialdemokratin und stellvertretende Ortsvorsteherin; die Mängel nicht zu übersehen, gehört zu ihrem politischen Auftrag. Dass die Mieten im zunehmend aufpolierten Gallus auch klettern, weil der Mietspiegel wegen des eingerechneten Europaviertels stark gestiegen ist, bekümmert sie. Dass im Europaviertel zu wenig für Gering- bis Normalverdiener gebaut worden ist, bedauert sie. Die Extreme der beiden Stadtteilteile zusammenzufügen, sieht sie als große Herausforderung.

Ein gutes Zeichen

Im vergangenen Oktober lud der Ortsbeirat in die Paul-Hindemith-Schule im Gallus ein, gesucht wurden Ideen für den Tel-Aviv-Platz im Europaviertel, einem Geviert mit Parkplatzcharme vor dem Rewe-Markt, wo der unablässige Wind Brötchentüten verweht. 50 Neubürger kamen. Große Bäume, Wasserspiele, sich gegenüber stehende Bänke für Begegnungen forderten sie. Vor allem: keinen Autoverkehr. Was davon übrig bleibt, wird man sehen, die Ortsbeiräte haben fleißig Anträge an den Magistrat geschickt. Für Anna Pause war dieser Abend ein gutes Zeichen: „Die Menschen bringen sich ein.“ Ihre Wünsche markieren gleichwohl einen offensichtlichen Mangel: Es gibt keine Piazza, keinen Platz, keine belebte Mitte.

Jan und Swetlana Niklas wohnen um die Ecke vom Tel-Aviv-Platz. Was da passiert? Sie sind gespannt. Sie sitzen am Wohnzimmertisch und denken laut nach: „Hm, was Schönes?“ Die Frage haben sie sich noch nie gestellt. Kommt Besuch von außerhalb, betonen sie die zentrale Lage, die vergleichsweise günstige Miete; knapp zwölf Euro pro Quadratmeter ruft die stadteigene Wohnungsbaugesellschaft ABG Holding auf. Fünf Zimmer bewohnen sie, was sie einer Fehlplanung verdanken. Der Architekt hat Keller vergessen, so mussten einige Wohnungen umfunktioniert werden. Deren überschüssigen Raum wiederum erhielten andere Wohnungen als Zugabe.

Dass in dem wie überall im Europaviertel schnell nach oben gezogenen Gebäude manches im Argen liegt, kann Jan Niklas mit einem prallen Aktenordner belegen: Schriftverkehr mit der ABG. Hauptproblem: Die Wandfarbe blättert ab. „Die haben die Wände nicht richtig austrocknen lassen“, sagt Jan Niklas. Seine Frau Swetlana unterbricht ihn: „Wir sollen doch was Schönes sagen...“

Jo Franzke ist der Architekt des Hauses, das im Viertel größere Bekanntheit genießt, weil in ihm besagter Rewe und darunter eine öffentliche Tiefgarage untergebracht sind. Franzke amtiert in Bahnhofsnähe und gehört bundesweit zur Prominenz seiner Zunft. Dem Europaviertel hat er an mehreren Stellen seinen Stempel aufgedrückt: heller Naturstein, schmale, aufragende Fenster. Seine Formsprache hat Trends gesetzt, was zur Folge hat, dass Franzke besonders im Europaviertel nicht ohne Weiteres identifizierbar ist. Schönheit? Jo Franzke stellt sich der Frage tapfer, sein Blick verrät Bedauern. So gut kenne er sich im Europaviertel gar nicht mehr aus, sagt er. „Was sollte mich auch dorthin ziehen?“ So wie er empfinden viele Frankfurter, manchen ist das Viertel so fremd wie die vielen gleich aussehenden Viertel in anderen Städten. Es gibt zu denen einen wesentlichen Unterschied: Andernorts sind diese Schlafstädte da, wo Metropolen ausfransen. Ihre breiten Tangenten dienen dem Pendlerverkehr.

Wem die Europaallee wofür dient, ist niemandem mehr klar. „Stalinallee“ nennt sie der Volksmund, und tatsächlich ist sie die meiste Zeit des Tages so menschenleer wie einst sowjetische Trabantenstädte. Baumeister Albert Speer junior, in China ein gefragter Mann fürs Monumentale, hat in den späten 90er Jahren eilig den Masterplan für das Europaviertel entworfen – im Auftrag der Stadt. Der damalige Planungsdezernent Martin Wentz (SPD) träumte von einem Boulevard, wie er ihn in Lissabon gesehen hatte. In der Mitte eine begrünte Flanierallee mit großen Bäumen, links und rechts Straße, buntes Geschäftsleben. Statt dessen versteppt heute mittig eine Alibiwiese, flankiert von überdimensionierten Bürgersteigen – „mit Hundeklo“, lästert Wentz. Nur hier und da gibt es Cafés, Restaurants, Geschäfte, die meisten Erdgeschosse aber sind für Büros und Wohnungen draufgegangen. Pulsieren kann da nichts.

Immerhin weiß Martin Wentz spontan einen schönen Ort zu nennen. Am Restaurant „Laube, Liebe, Hoffnung“ im Europagarten lasse er den Blick gern schweifen. Nicht gen Osten wohlgemerkt, wo das wie von Kinderhand auf farbenfroh getrimmte Skyline Plaza vors Auge und ins Gemüt drängt. Wentz hatte sich dort ein Theater gewünscht, mit Bäumen davor, ein Theater für Musicals, wie sie in den 90er Jahren jede Stadt mit Anspruch auf Weltrang haben wollte. Wentz hätte sich entlang der Europaallee eine ideen- und abwechslungsreichere Architektur erhofft. Der Stadtrat a. D. hätte sich dies gewünscht, Stadtplanungsamt und sein Nachfolger, der glücklose Edwin Schwarz (CDU), hätten bei den Baugenehmigungen kreativ interveniert.

2001 ist Wentz in die Privatwirtschaft gewechselt, nördlich vom Europagarten haben Wentz & Co. die Römischer Ring genannten Wohnhäuser errichtet. Da nun, sagt er recht unbescheiden, schaue er gerne hin, wenn er am „Laube, Liebe, Hoffnung“ stehe. Das eigene Werk, es gefällt ihm am besten.

Im Osten der Europaallee, wo Wentz nicht hinsehen mag, steht an einem Vormittag Architekt Jo Franzke vor seinem Gebäude mit der Nummer 33 und schüttelt den Kopf. Bagger reißen die Pflastersteine heraus, die Bäumchen haben schon dran glauben müssen. Der verzögerte U-Bahn-Bau fordert Opfer. „Was das kostet“, raunt Franzke. Er mag die Europaallee nicht, hat sie nie gemocht. Die einheitliche Traufhöhe lässt die Zeilen wie Riegel erscheinen, auch Jo Franzkes langgezogenes Wohnhaus duckt sich da hinein. „Wir sind ja hier nicht ganz schuldlos“, sagt der Ästhet und fügt als Geschäftsführer eines mitarbeiterstarken Büros hinzu: „Wir konnten auf diese Aufträge aber natürlich nicht verzichten.“ Auf dem Dach seines Gebäudes hat er sich zu einer Pergola hinreißen lassen, zu einem Fünkchen Anarchie, er hat hochwertiges Material verbauen können. „Doch“, sagt Franzke und nimmt für die Fotografin Haltung an, „das Gebäude ist im Großen und Ganzen gelungen“.

So wird auf der Suche nach der Schönheit ein Verdacht bald zur Gewissheit: Allein schon die Frage nach dem Lieblingsort offenbart bei den verantwortlichen Akteuren jenen Eigennutz und jene Selbstbezogenheit, die dem Viertel seinen Charakter gegeben haben.

An einem kühlen Tag trotzt Planungsamtsleiter a. D. Dieter von Lüpke am „Laube, Liebe, Hoffnung“ dem Gegenwind. Das Restaurant in der anthroposophisch anmutenden Holzkonstruktion macht Karriere, auch von Lüpke hat es auserkoren. Stadtplaner mögen Orte, an denen es noch etwas zu gestalten gebe, sagt er und träumt laut vom noch unfertigen Europagarten als einem „Central Park“ im Kleinformat. Natürlich, sagt er, hätte man das Viertel stärker verdichten können. Natürlich sei die Architektur etwas monoton. Natürlich hätte es das Skyline Plaza so nicht unbedingt gebraucht. Pragmatiker von Lüpke aber hält von verspäteten Wunschvorstellungen nicht viel, sich im Nachhinein gegenseitig Fehler vorzuwerfen, ist seine Sache schon gar nicht. Lieber betont er die Errungenschaften: „In den Helenenhöfen haben wir sozialen Wohnungsbau durchgesetzt, mit allen Förderebenen. Das ist ein politischer Erfolg.“

396 Wohnungen sind in den Helenenhöfen entstanden. Familie Niklas blickt vom Fenster aus auf die Balkone und staunt zuweilen, wie viel Betrieb dort herrscht, wie die etwas ärmeren Menschen noch den kleinsten Raum als vielgestaltigen Lebensraum erobern.

Jan und Swetlana Niklas nutzen ihren Balkon fast nur in den lauen Abendstunden, weil tagsüber die Sonne erbarmungslos knallt und sie keine Markise installieren dürfen. In diesen Abendstunden stellt sich dann aber doch das Wohnglück ein. Das leblose Europaviertel liegt dann so ruhig da wie ein verschlafener Urlaubsort. Und der Blick geht in den Taunus. In die Ferne. „Das“, sagt Swetlana Niklas, „ist das Schönste hier.“

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