Experte warnt in Frankfurt: „Demokratie ist ein extrem riskantes Projekt“

Vor 175 Jahren versuchte sich Deutschland in Frankfurt erstmals in Demokratie. Wissenschaftler Herfried Münkler warnt vor heutigen Gefahren für die Demokratie.
Frankfurt - Ein Fest der Demokratie soll das 175. Jubiläum der Nationalversammlung sein - mit reichlich Historie und Lobpreisungen auf die freiheitlich-rechtlichen Grundordnung. Doch wie steht’s eigentlich um den demokratischen Geist im Lande? Der renommierte Politikwissenschaftler Herfried Münkler, geboren 1951 in Friedberg, widmet sein aktuelles Buch „Die Zukunft der Demokratie“ vor allem auch dieser Frage. Mit ihm sprach Redakteur Mark Obert.
Herr Münkler, blicken wir 25 Jahre voraus, wenn wir 200 Jahre Paulskirche feiern. Wo steht dann die Demokratie?
Wir haben in Deutschland seit den späten 1940er Jahren eine sehr günstige Phase für die Demokratie gehabt, weil sie sich aus einer Prosperität entwickeln konnte, die über die Wiedervereinigung hinaus gehalten hat. Die Rahmenbedingungen sind inzwischen nicht mehr günstig. Wirtschaftlich rutschen wir angesichts der internationalen Konkurrenz langsam ab.
Mit welchen Folgen?
Die Zufriedenheit nimmt ab, es herrscht ein gereizter Tonfall, es deutet sich eine Polarisierung in der Gesellschaft an, die zwar nicht so weit fortgeschritten ist wie in anderen europäischen Ländern oder in den USA. Aber man muss befürchten, dass es auch in Deutschland so weit kommt. Zudem nimmt die Bereitschaft der Bürger ab, sich für Demokratie zu engagieren, politisch zu partizipieren, Zeit zu investieren. Man kann das schon beim Minimalengagement sehen, beim Gang zur Wahlurne. Als ich jung war, lag die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen bei 90 Prozent. Davon sind wir heute weit entfernt. Die nächsten 25 Jahre werden sicherlich von weitaus größeren Herausforderungen gekennzeichnet sein als in der Vergangenheit.
Welche sehen Sie vor allen Dingen?
Wir hatten in der alten Bundesrepublik und auch im vereinten Deutschland anfangs noch ein zentriertes Parteiensystem. Die Parteien beanspruchten für sich eine Position in der Mitte. Mit dem Aufstieg der populistischen Parteien vor allem auf dem rechten Flügel ist es zu einer Dezentrierung gekommen. Das ist das eine. Das andere ist: Regierungsbildungen sind schwieriger geworden.
„Dreierkoalitionen sind viel schwieriger zu steuern“
Und die Ampel kämpft mehr gegeneinander als miteinander.
Dreierkoalitionen sind viel schwieriger zu steuern als Zweierkoalitionen. Im Ergebnis monieren viele Bürger, dass die Politik nicht mehr bringt, was man von ihr erwartet. Und das sorgt für eine missgelaunte Stimmung.
Diese in Teilen übersteigerte Erwartungshaltung an Politik ist ein zentrales Thema Ihres aktuellen Buches „Die Zukunft der Demokratie“. Was von dieser Erwartungshaltung und der daraus resultierenden Enttäuschung ist aus Ihrer Sicht berechtigt, was nicht?
Erwartungshaltungen an die Demokratie sind in der Demokratie grundlegend unangemessen. Denn Verfahren und Ergebnisse gründen der demokratischen Idee nach auf dem Input der Bürger und nicht so sehr auf dem Output der Politik. Aber es hat sich so etwas wie eine konsumistische Grundeinstellung durchgesetzt - mit der Formel: Hat die Politik geliefert? Diese Formel greift auch in der Publizistik um sich. Das ist so eine Hände-in-den-Hosentaschen-Haltung. Man bewertet Politik nur noch daran, ob sie macht, was man will. Tut sie das nicht, wird ihr die Leistung abgesprochen oder gar der gute Wille. Was folgt, sind Empörung bis hin zu Verschwörungsideologien, wonach geheime Gruppen im Hintergrund die Fäden ziehen. Man könnte sagen, es herrscht eine Disposition zur Demokratie-Unverträglichkeit.
Was wäre demnach Demokratie-Verträglichkeit?
Den Grundimperativ von Demokratie hat US-Präsident Kennedy auf den Punkt gebracht: Frag dich nicht, was dein Land für dich tun soll. Frag dich, was du für dein Land tun kannst. Dieser Grundimperativ ist bei uns in den Hintergrund geraten.
Warum ist das so? Oder anders gefragt: Was haben wir nicht gut gemacht in den letzten Jahren?
Die Einspruchs- und Widerspruchsrechte sind unter dem Ausbau des liberalen demokratischen Rechtsstaats so ausgeweitet worden, dass im Prinzip Vorhaben bei uns unendlich lange dauern, jahrelang bei den Verwaltungsgerichten liegen, sodass der Eindruck entsteht, Demokratie kriegt nichts hin. Man hat den Eindruck, es gelte der Satz: Schön, dass wir mal darüber geredet haben. Der Schritt vom Beratschlagen zur Entscheidung ist unendlich lang geworden.
Weil ja noch jedes Partikularinteresse der Bürger berücksichtigt sein will.
Ja, aber das Problem scheint in der politischen Spitze mittlerweile angekommen zu sein, so oft Olaf Scholz vom neuen Deutschland-Tempo spricht.
Ist das nicht reine Rhetorik?
Das muss man abwarten. Der vermeintliche Prozess der Demokratisierung entwickelt sich aktuell jedenfalls noch zunehmend zu einem Prozess der Verrechtlichung, der Bürokratisierung, der ständigen Überprüfung. Das permanente Einspruchsrecht für jedermann und jederfrau hat die Demokratie in Misskredit gebracht. Da muss sich deutlich etwas ändern. Ich würde sagen: Darin liegen die Hauptprobleme - nicht zuletzt im Hinblick auf autokratische Systeme, die immer den Vorteil der Schnelligkeit haben, der Fähigkeit zur Beschleunigung.
„Die anderen sagen: Alles übertrieben - und lasst mich in Ruhe“
Und deshalb breite Zustimmung auch bei uns erfahren - nicht nur durch die AfD.
Wobei Sympathisanten natürlich verkennen, dass autokratische Systeme auf die Befindlichkeiten der Bürger schon gar keine Rücksicht nehmen würden. Aber zunächst einmal geht es um unterschiedliche Wahrnehmungen von Zeit, was man in der Klimadebatte gut sehen kann. Die einen dringen auf Veränderung, weil es schon fast zu spät sei. Die anderen sagen: Alles übertrieben - und lasst mich in Ruhe. Das sind Sichtweisen, die tendenziell nicht mehr kompromissfähig sind. Aber wir leben in einer Kompromiss-Demokratie, in der die Gesetze durch Parlamente, durch den Bundesrat und dann vielleicht sogar noch vors Bundesverfassungsgericht müssen. Anders gesagt: Bislang hat unsere Demokratie noch nie auf die Schnelle mit einschneidenden Veränderungen oder gar Einbußen operiert.
Aber was tun, wenn es wie beim Klima schnelle Entscheidungen braucht?
Man könnte antworten: schnell entscheiden. Aber man sieht an den zurzeit schlechten Umfragewerten der Grünen: Was viele Menschen gestern noch gefühlt als richtig empfunden haben, erachten sie dann nicht mehr als sinnvoll, wenn in ihre Lebensführung eingegriffen wird. Das wollen die dann nicht mehr. Das sorgt für Polarisierung.
Es gibt in der Demokratieforschung durchaus Befürworter einer Polarisierung, die als solche klar benannt werden müsse, um die Unmöglichkeit eines Kompromisses zu verdeutlichen. Nach dem Motto: Einer zieht halt den Kürzeren.
Und eigentlich hat die Demokratie mit ihren organisierten Mehrheiten ja Mechanismen, um solche Fragen zu klären. Wenn diese Mechanismen aber nicht bedient und durchgesetzt werden, verdichten sich Mentalitäten der Bequemlichkeit in der Bevölkerung. Und Mentalitäten sind Gefängnisse der langen Dauer. Die große Frage ist also: Sind die Menschen bereit, scharf umzusteuern - in Sachen Klimarettung oder auch in Sachen Zeitenwende in der Rüstungs- und Außenpolitik? Oder wollen sie an ihren liebgewonnenen Gewohnheiten festhalten?
Am Beispiel Corona und nun in der Klimadebatte erleben wir, wie unterschiedliche Freiheitskonzepte konkurrieren. Das liberal-hedonistische, repräsentiert vor allem von der FDP. Und das existenzielle, repräsentiert vor allem von den Grünen. Was wir dazu auch bei den anderen Parteien beobachten: Es greift in der Mitte der Gesellschaft eine Orientierungslosigkeit um sich, dafür wird der Ton schärfer. Wie sehen Sie das?
Was wir jetzt erleben, haben Demokratie-Skeptiker seit dem Bericht des Club of Rome zum Zustand des Weltklimas vorausgesehen: Im Prinzip sei eine Demokratie nicht in der Lage, die sozial-ökologische Wende durchzuführen, weil dies bedeuten würde, in eine Gesellschaft des Verzichts einzutreten. Unsere Demokratie hat tatsächlich immer von dem Versprechen der Zuwächse gelebt. Unsere Kinder sollen es mal besser haben. Darauf basierte in den letzten Jahrzehnten die Zustimmung zur Demokratie. Diese Zuversicht erodiert gerade und sorgt für Blockadehaltungen. Deshalb sind Leute wie Rudolf Bahro mit der Idee einer Öko-Diktatur gekommen.
Kurzum: Ist Demokratie krisentauglich?
Es wird sich weisen, wie die Demokratie durch die Krisen kommt. Natürlich kann eine Regierung innerhalb ihrer vier Jahre einiges beschließen und durchsetzen, wenn nicht der Bundesrat oder das Verfassungsgericht reingrätscht. Aber natürlich fragen sich Parlamentarier, ob sie wiedergewählt werden, wenn sie unpopuläre Entscheidungen fällen, so vernünftig sie auf lange Sicht sein mögen. Oder ob die Partei wiedergewählt wird. Wir erleben das ja jetzt bei den Grünen, deren Zustimmungswerte stark abnehmen, während die AfD erheblich zulegt.
Aber noch mal: Es ist nicht nur die AfD, sondern es sind auch Parteien der Mitte wie die CDU, die das Schreckgespenst eines Öko-Totalitarismus an die Wand malen und von Freiheitsentzug sprechen, wenn es um die Eindämmung hoher Lebensstandards und Konsumgewohnheiten geht.
Es konkurrieren da zwei fundamentale Einstellungen: „Freiheit von“ oder „Freiheit für“. Der Liberalismus, wie er bei uns von der FDP vertreten wird und zur Grundeinstellung des Neoliberalen gehört, basiert wesentlich auf der Vorstellung „Freiheit von“ staatlichen Eingriffen, Bevormundung, Paternalismus und derlei mehr. „Freiheit für“ stellt sich schon anders dar. Da werden Ziele aufgeschrieben, und da kann es auch durchaus sein, dass Leute genötigt werden, sich bürgerlich-demokratisch kompetent zu machen, um gegen diese konsumistische Disposition, wie sie in „Freiheit von“ zum Ausdruck kommt, anzugehen.
„Die Politik muss bereit sein, diese Vernünftigkeit durchzusetzen“
Und wie genau?
Indem im weiteren Sinne Expertengremien zum Beispiel in Fragen des Umweltschutzes ins Spiel kommen, die Politik beraten und ihr verfügbares Wissen antragen. Die Politik muss bereit sein, diese Vernünftigkeit durchzusetzen. Ist sie das? Da sind Zweifel angebracht. Wie gesagt: Man will nicht die nächsten Wahlen riskieren. Daran sieht man: Demokratien haben eine Distanz gegenüber technokratisch-rationalen Systemen. Deshalb sagen Sozialwissenschaftler, dass sich auf Dauer eher technokratische Systeme durchsetzen. Die können auch demokratisch sein. Die Gefahr, dass sie eher autoritär sein werden, scheint mir aber sehr hoch zu sein.
Technokratische Systeme beschreibt man wie?
Das Wissen von Wissenschaftlern setzt die Vorgaben, die Parameter, die von der Politik erreicht werden müssen. In gewisser Weise sehen wir das heute schon in China, das uns deshalb in vielerlei Hinsicht überlegen zu sein scheint. Demokratie ist herausgefordert: Ist sie vernunftkompatibel oder ist sie nur stimmungskompatibel?
Das Ideal, eine vernunftgeleitete Expertokratie mit Demokratie zu versöhnen, verfolgten schon die Griechen. Nun hat die Coronakrise gezeigt, dass das Vertrauen in Expertentum massiv schwindet.
Die Querdenkerszene ist ein großes Warnschild im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit der Demokratie, weil diese letzten Endes auf Grundvertrauen und einem politisch kontrollierbaren Vertrauensvorschuss basiert. Was wir in der Pandemie hingegen erlebten, war in Teilen der Bevölkerung ein generalisiertes Misstrauen und ein fundamentaler Irrtum: Ich allein weiß, was für mich gut ist. Und wenn das andere für sich auch wissen, wird in der Gesamtheit schon so etwas wie eine Gesamtvernünftigkeit dabei herauskommen, und damit ist dem Gemeinwohl gedient.
Dieses Denken sorgt für Kampfbereitschaft, weil es in der Gegenmeinung die Bevormundung sieht, eine Bedrohung sogar. Die Pandemie muss sorgfältig aufgearbeitet werden. Nicht nur medizinisch im Hinblick auf Maßnahmen und ihren Nutzen oder Schaden, sondern auch im Hinblick auf Demokratie, auf die Lernbereitschaft und Lernfähigkeit der Menschen. Man könnte ja sagen, dass das generalisierte Misstrauen zugleich eine generalisierte Lernblockade ist.
In Ihrem Buch schreiben Sie aber, dass Demokratien nun mal einsichtsfähige Bürger brauchen. Da machen die Befunde der Sozialwissenschaft wenig Mut. Wie also steigert man Einsichtsfähigkeit?
Gute Frage. Relativ lange haben bei uns die großen Parteien als Transmissionsriemen dessen gewirkt. Die Mitglieder der Parteien und ihrer Vorfeldorganisationen haben für die Verbreitung von Erkenntnissen und Einsichten gesorgt. Die haben einerseits die Stimmungen in der Bevölkerung aufgesogen, haben Werte vermittelt und verschiedene Positionen abgewogen und kanalisiert. Die Parteien sind aber längst schwächer geworden, haben nicht mehr genug Mitglieder, um diese Rolle auszufüllen. Sie sind im Prinzip professionelle, teilweise staatlich alimentierte Veranstaltungen.
Sie diagnostizieren, dass viele Menschen in den Parteien auch deshalb keine Heimat mehr finden, weil sie zu viele konkurrierende Interessen und Haltungen in sich vereinen. In Ihrem Buch erwähnen Sie als Beispiel den sozial engagierten Bürger, der gleichzeitig fremdenfeindlich gesonnen ist.
Und er wird in beiden Haltungen bestärkt von den jeweiligen Blasen in den sozialen Medien. Denn es kommt ja noch ein anderes Problem hinzu, das wir noch gar nicht erwähnt haben: die Veränderung der Kommunikation. In Zeiten der sozialen Medien hat jede dümmliche Äußerung die gleiche Chance zu zirkulieren wie ein wohldurchdachtes Argument. Soziale Medien generieren anders als die klassischen Wissensspeicher, wie Zeitungen und Bücher, eine Grundaufregung, die die Gesellschaft beherrscht.
In Bremen hat eine populistische Partei die Macht der Gefühle zur Programmatik gemacht, schon im Namen: „Bürger in Wut“ hat dort doppelt so viel Stimmen erhalten wie die FDP. Noch so ein Warnsignal?
Allerdings. Doppelt so viele Stimmen wie die FDP, die sich ja klassischerweise immer als die Partei der Vernunft verstanden hat - was immer man von dieser anmaßenden Selbstbeschreibung halten mag. Der Erfolg der „Bürger in Wut“ ist keine Überraschung. Der Gestus der Empörung, der Wut, des Zorns ist ein neuer starker Gestus in der Demokratie ...
... der den Marsch durch die Institutionen antritt, der die Parlamente erobert, wie man nicht zuletzt an der AfD sieht.
Ja. Meine Frau und ich haben eine Wohnung in Dresden, da haben wir diese Entwicklung schon bei den Demonstrationen der Pegida verfolgen können, vor allem auch, wie diese Stimmungen des Augenblicks in tiefe Ressentiments gegen Politiker, gegen gesellschaftliche Minderheiten umschlagen. Man kann sagen: Demokratie ist ein extrem riskantes Projekt, wenn man die Vernunft bei den Kollektivauffassungen in der Bevölkerung verortet. Man kann nicht davon ausgehen, dass das immer funktioniert, wie ein Blick in die Geschichte, gerade auch die deutsche Geschichte am Ende der Weimarer Republik, verrät. Die antiken Demokratien sind an diesem Ideal untergegangen, die partizipativen Ordnungen des späten Mittelalters sind daran gescheitert.
Herr Münkler, schließen wir am Ende all dieser negativen Befunde den Kreis: Wenn die Paulskirche die Wiege der Demokratie war, erleben wir dann sinngemäß gerade, wie die Demokratie auf der Bahre liegt?
Wir können zumindest nicht ausschließen, dass unsere Demokratie scheitert. Man kann die Frage aber auch anders stellen: Kann sich eine Gesellschaft, die vor derart großen Herausforderungen für die Zukunft steht, auf Dauer Demokratie überhaupt noch leisten? Wie muss die Demokratie der Zukunft aussehen?
Was meinen Sie?
Sie muss die Bürger stärker in Entscheidungen einbeziehen, vor allem auf der kommunalen Ebene, wo die Probleme und die Lösungen überschaubar sind. Nicht um des Einbeziehens willen, sondern um der Entwicklung politischer Urteilskraft in der Bürgerschaft. Ohne die kommt eine Demokratie auf Dauer nicht aus. Ist sie vorhanden, sind Demokratien technokratisch-autoritären Regimen deutlich überlegen. Fehlt sie, haben Demokratien ein Problem. (Mark Obert)
Die Stadt Frankfurt zieht nach dem viertägigen Paulskirchenjubiläum eine positive Bilanz. Konzerte und Reden kamen gut an.