"Menschen kommen mit ihren Krisen zu uns": Anlaufstelle Bahnhofsmission

Die Bahnhofsmission ist Anlaufstelle bei Problemen aller Art - in Frankfurt seit beinahe 125 Jahren.
Die Bahnhofsmission am Frankfurter Hauptbahnhof feiert 2020 ihr 125-jähriges Bestehen. Rund um die Uhr kümmert sie sich um Reisende und Menschen in Krisensituationen. Manchmal geht es dabei nur um ein Pflaster, meistens aber um viel mehr. Darüber sprach Brigitte Degelmann mit dem Leiter der Bahnhofsmission, Carsten Baumann.
Herr Baumann, vor knapp vier Jahren haben Sie die Leitung der Bahnhofsmission am Hauptbahnhof übernommen. Hatten Sie vorher schon mal etwas mit dem Thema zu tun?
Null - ich bin passionierter Autofahrer (lacht). Deshalb musste ich mich erst einmal in die Themen hier einarbeiten. Wie funktioniert so ein Bahnhof überhaupt? Wie mache ich eine Fahrkarte?
Fahrkarten machen - was heißt das?
Die Menschen gehen aufs Sozialamt und erhalten einen Gutschein über eine Reisemöglichkeit. Zum Beispiel zu einem Bewerbungsgespräch oder eine Monatskarte, um zur Arbeit zu kommen. Mit dem Gutschein kommen sie hierher und kriegen den Fahrschein. Das rechnen wir dann mit den zuständigen Stellen ab. Wir sind sozusagen die Zwischenstation. Das ist wichtig bei Menschen, die mit Geld vielleicht nicht so gut umgehen können. 2018 haben wir hier rund 3500 Fahrkarten vermittelt.
Was gehört noch zu Ihren Aufgaben?
Im Programm "Kids on tour" begleiten wir zum Beispiel allein reisende Kinder - immer freitags und sonntags auf bestimmten Strecken innerhalb Deutschlands. Ein großer Block sind die Mobilitätshilfen, da helfen wir Menschen beim Umsteigen. Etwa älteren Menschen, die vielleicht ein Handicap haben. Dabei wird der Kontakt oft ganz schnell sehr eng und intensiv. Oft erzählen Menschen da von ihren Krisen. Im vergangenen Jahr habe ich einen älteren Herrn begleitet. Wir liefen über den Bahnsteig, und er sagte: "Das ist das erste Mal, dass ich alleine reise. Vor einem halben Jahr ist meine Frau gestorben." Dann stehen Sie inmitten von Gewusel im Bahnhof und sortieren sich erst einmal, was Sie darauf antworten. Und das war nicht seine einzige schwierige Botschaft.
Nicht?
Als wir in Richtung Zug gegangen sind, hat er zu mir gesagt: "Naja, junger Mann, das ist mein letzter Sommer." Er hatte Krebs im Endstadium. Ich hab' da gestanden wie ein begossener Pudel, und er hat mich gedrückt und gesagt: "Ich hab' ein schönes Leben gehabt. Seien Sie jetzt nicht traurig. Sie brauchen keine Angst zu haben vor dem Tod, der gehört dazu." Dann hat er sich herumgedreht, ist in den Zug gestiegen und ist gefahren. Er war völlig mit sich im Reinen. Ich fand das einen unglaublich ergreifenden Augenblick. Vor allem vor dieser Kulisse im Bahnhof: Sie stehen im pulsierenden Leben, und Ihnen sagt in dem Moment jemand, dass er gerade seinen letzten Sommer erlebt.
Haben Sie eine Erklärung dafür, dass sich Menschen hier binnen weniger Minuten so sehr öffnen?
Das macht wohl auch diese Anonymität aus. Man sieht sich ja höchstwahrscheinlich nur einmal im Leben. Für viele ist es wichtig, so etwas erzählen zu können. Dass sie es mal loslassen und ein bisschen unbeschwerter weiterreisen können.
Sie kümmern sich aber auch um Menschen, die auf der Straße leben.
Zu uns kommen täglich 250 bis 300 Menschen. Pro Jahr haben wir 145 000 Kontakte und geben 80 000 Getränke-Portionen aus. Die Menschen kommen mit den verschiedensten Krisen zu uns. Es lässt sich gar nicht so genau sagen, wofür wir eigentlich zuständig sind. Unter anderem haben wir eine Notkleiderkammer und geben im Winter auch Schlafsäcke aus. Letztlich sind wir das Mädchen für alles, was am Bahnhof passiert. Das können ganz profane Sachen sein.
Zum Beispiel?
Sie haben sich wundgelaufen und brauchen ein Pflaster. Oder jemand will mal telefonieren oder sein Handy aufladen. Aber es gibt auch problematischere Fälle. Rund um den Bahnhof haben wir viele Menschen mit schwierigen psychischen Erkrankungen. Im vergangenen Jahr hatten wir beispielsweise eine Frau, die erst völlig unauffällig war. Dann hat sie sich im Reisebereich einfach auf den Boden gesetzt. Die Mitarbeitenden waren zunächst ziemlich ratlos.
Und dann?
Ich habe mich neben sie gesetzt, auf den Boden. Irgendwann sagt sie völlig verzweifelt zu mir: "Sehen Sie's nicht, wie viele hier rumstehen mit Maschinengewehren?" Da war für mich klar, dass hier vermutlich eine akute Psychose vorliegt. Am Ende mussten wir den Rettungsdienst und die Landespolizei hinzuziehen und sie zwangseinweisen lassen.
Passiert so etwas öfters?
In unserer Statistik hat sich die Zahl der Kontakte mit Menschen mit psychischen Erkrankungen und Abhängigkeitserkrankungen innerhalb eines Jahres, von 2017 auf 2018, verdoppelt. Eine direkte Erklärung dafür habe ich allerdings nicht.
Vielleicht eine indirekte?
Wir nehmen gesellschaftliche Entwicklungen schon sehr früh wahr. Ein Bahnhof ist ein Knotenpunkt, an dem sich die gesamte Gesellschaft abbildet. Und Sie merken einfach, dass die Leistungsgesellschaft zunehmend ihren Tribut fordert. Es steigen immer mehr Menschen aus. Ich glaube, dass es zunehmend junge Menschen sind, die es entweder überhaupt nicht in den Arbeitsprozess reinschaffen oder die recht früh wieder ausgestiegen sind, weil sie dem Druck nicht gewachsen sind. Und Menschen ab Mitte 50, die nicht mehr so leistungsfähig sind, vielleicht erkranken und dann einfach rausfliegen. Wer nicht funktioniert, hat ein Problem.
Was können Sie da tun?
Das klassische Konzept ist: Sie haben ein Problem und kommen zu uns - und wir gucken, was wir hier regeln können. Wenn wir es nicht lösen können, dann versuchen wir Sie dorthin überzuleiten, wo Ihnen letztlich geholfen werden kann. Wir sind 24 Stunden 365 Tage im Jahr da, als niederschwellige Beratung. Das heißt, wir machen keine Termine und bestellen niemanden noch mal ein, das würde unserem Verständnis widersprechen. Letztlich sind wir eine moderne Stelle für Krisenmanagement, damit Menschen, die durch den Rost gefallen sind, wieder eine Chance haben, im Leben Fuß zu fassen. Das wäre die Idealvorstellung.
Und in der Realität?
Ein Stück weit sehe ich uns als Anwalt für Menschen, die keinen mehr hinter sich haben. Um für sie Dinge voranzutreiben - zum Beispiel eine Krankenkassenkarte zu beantragen. Oft geht es auch darum, eine gute Weitervermittlung auf die Reihe zu kriegen. Denn wir sind ja eigentlich nur eine Krisenstelle.

Ursprünglich kümmerte sich die Bahnhofsmission vor allem um Frauen und Mädchen vom Land, die in der Stadt Arbeit finden wollten.
Ja, die Idee war anfangs, dass die Frauen nicht in irgendwelche ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse oder gar in die Prostitution geraten. Die erste Bahnhofsmission wurde vor 125 Jahren in Berlin gegründet. In Frankfurt war das ein Jahr später der Fall - wir feiern also 2020 unser 125-jähriges Bestehen. Das Thema Schutz ist ein roter Faden, der sich durchzieht durch die Bahnhofsmission - letztlich für alle Menschen, die irgendwie benachteiligt sind.
Auch für Migranten?
Bei uns landen oft Menschen, die aus anderen Ländern eingereist sind und alles hinter sich abgebrochen haben. Nach ersten Erfahrungen, dass es hier gar nicht so leicht ist, eine Wohnung und einen Job zu finden, tauchen sie mit Sack und Pack hier auf. Auch mit kleinen Kindern. In solchen Fällen schalten wir automatisch das Jugendamt ein, denn Sie dürfen ja nicht obdachlos mit Kindern sein - dann reden wir von Kindeswohlgefährdung. Dann haben Sie ganz schnell das Thema Inobhutnahme auf dem Tisch, dass also das Jugendamt sich um die Unterbringung der Kinder kümmert.
Klingt kompliziert.
Ist es auch. Wir hatten jetzt eine fünfköpfige Familie aus dem arabischen Raum, die aus Italien gekommen war und eigentlich dort hätte bleiben müssen. Die Kinder waren zwei, sechs und 14 Jahre alt. Die Familie konnte sich sprachlich nicht gut mitteilen. Seit zwei Jahren haben wir aber eine Konferenzanlage hier, die es ermöglicht, live zu dolmetschen.
Mit Erfolg?
Zunächst nicht. Sie dachten, wir würden ihnen helfen und konnten nicht verstehen, dass das nicht so ging, wie sie sich das vorgestellt hatten. Sie wollten weder ihre Kinder in Obhut geben, noch nach Italien zurückkehren. Irgendwann war klar, dass es keinen Ausweg gibt. Am Ende sind sie für eine Nacht bei uns geblieben und am nächsten Tag mit dem Fernbus wieder nach Italien gefahren. Das ist oft sehr kräftezehrend, weil das Verständnis nicht da ist, wie unsere Gesetzgebung tickt.
Aber auch handfeste materielle Nöte sind bei Ihnen ein Thema, oder?
Der Klassiker ist: Jemand kommt und sagt, dass er beklaut worden sei. Dass er kein Geld mehr habe, aber unbedingt dieses oder jenes brauche. Wenn uns das glaubhaft erscheint, dann setzen wir uns in Bewegung. Und die Menschen sagen uns zu, dass sie das zurückzuzahlen.
Tun sie das?
Zu 95 Prozent nicht. Das ist ein Riesenproblem. Wir können das Geld ja nicht grenzenlos ausgeben, wir müssen uns zu einem guten Teil aus Spenden finanzieren. Trotzdem dürfen Sie den Glauben an die Menschen nicht verlieren. Es trifft ja auch mal Leute, die aus einem ganz blöden Grund in so eine Situation kommen. Letztes Jahr zum Beispiel war ein junger Mann hier, ein Autohändler. Der hatte sein Portemonnaie zu Hause vergessen und wollte 100 Euro haben, weil er auf Geschäftsreise wollte. Übermorgen sei er wieder da. Ich habe zehn Minuten mit dem Mann gesprochen und hatte den Eindruck, das stimmt.
Sie haben ihm das Geld tatsächlich gegeben?
Ja, ich habe ihm gesagt, dass ich ihm vertraue. Und die 100 Euro kamen zurück.
Bundesweit gibt es 104 Bahnhofsmissionen, die von der Diakonie Deutschland und dem Deutschen Caritasverband getragen werden. Ein Teil ihres Budgets müssen die Bahnhofsmissionen aus Spenden finanzieren. Für die Bahnhofsmission am Frankfurter Hauptbahnhof gibt es ein Spendenkonto bei der Bank für Sozialwirtschaft, IBAN DE 48 5502 0500 3818 0621 00.
von Brigitte Degelmann
Sechs Jahre hatte Sigrid Bender die Bahnhofsmission Frankfurt geleitet. 2016 wurde sie verabschiedet und zugleich Carsten Baumann als ihr Nachfolger vorgestellt.