Frankfurt: Der Diakon, den die meisten Papa nennen

Leiter der Bahnhofsmission ist sich für nichts zu schade - Traum von einem Hygienecenter
Manche nennen ihn "Papa". Drei Jahre dauerte es, bis einige der Menschen rings um den Hauptbahnhof begannen, ihn so zu rufen. Drinnen in der Bahnhofsmission am Gleis 1a fällt Carsten Baumann sofort auf zwischen den Mitarbeitern in den blauen Westen. Er trägt eine runde rote Brille, ein Hemd mit Manschettenknöpfen, karierte Hose, Lederschuhe. "Geschniegelt", sagt Baumann und grinst. So steht der Leiter der Bahnhofsmission auch draußen vor der Tür zwischen den Klienten, schraubt schon mal Glühbirnen ein, schaut nach der kaputten Toilette, klebt Pflaster auf Wunden, hält Vorträge vor Polizistinnen und Bankern.
Defibrillator an der Wand
"Als Typus passte ich nie in die Soziale Arbeit", sagt der 53-Jährige. Aber er ist einer, der sich kümmert, und zwar sofort. Für den psychisch Erkrankten, den ein Passant auf dem Rücken von den Straßenbahngleisen in die Bahnhofsmission getragen hatte, rief er sofort den Notarzt, um den Mann in einer Fachklinik unterbringen zu lassen. Mit der Bemerkung, da könne er ja gleich das ganze Bahnhofsviertel mitnehmen, fuhr der Notarzt wieder davon. Baumann erinnert sich noch gut, wie er kurz darauf den Mann, dessen Herz stillstand, vergeblich versuchte, wiederzubeleben. "Ich sehe mich noch heute hilflos neben ihm sitzen". Seitdem hängt ein Defibrillator in der Bahnhofsmission.
Nicht nur Begegnungen wie diese, die sich für immer einbrennen, erlebt der evangelische Diakon. Vielmehr sind es "1000 kleine Geschichten". Daheim, an der beschaulichen Nahe, wo er mit seiner Frau und drei Kindern lebt, predigt Baumann alle zwei Monate im Gottesdienst - hautnah aus dem Leben erzählen kann er viel.
Im Herzen der Metropole
Nach seiner theologischen und sozialberuflichen Ausbildung blieb er 28 Jahre bei der Stiftung Kreuznacher Diakonie, leitete ein Heim mit 150 Plätzen für Menschen mit Behinderung, koordinierte ein Zentrum mit 400 Personen. Ein anstehender Strukturwandel bewog ihn zu wechseln. Baumann ist froh mit der Entscheidung, in der Bahnhofsmission im Herzen der Mainmetropole ist er genau am richtigen Platz. 2016 war er der erste Mitarbeiter des Diakonischen Werkes, der die Leitung übernahm. Bereits seit 1910 steht die Mission für die älteste ökumenische Zusammenarbeit. Seit 1910 arbeiten dort katholische und evangelische Christen zusammen.
So liegt es nahe, dass Baumann auch im gemeinsamen Filmbeitrag von Caritas und Diakonie zum Ökumenischen Kirchentag in Frankfurt zu sehen war. Wohnungslosigkeit ist das Thema des Filmes und es ist auch seines, denn "die Armut, die sich hier im Bahnhofsviertel konzentriert, ist schon sehr bemerkenswert". Nicht abzustumpfen, sich an gewisse Dinge nicht zu gewöhnen, das schärft Baumann seinen ehrenamtlichen Mitarbeitern ein. Er führte in der Bahnhofsmission kostenlose Toiletten für jedermann ein und warme Duschen ohne Zeitbegrenzung. Ganz hinten durch geht es zum Notapartment für Frauen mit Gewalterfahrung. Es ist oft belegt.
Baumann möchte die Bahnhofsmission erweitern und modernisieren. Das geplante Hygienecenter für Wohnungslose ist das große Zukunftsprojekt. 45 Ehrenamtliche unterstützen die 17 Hauptamtlichen, die Tag und Nacht Dienst in der Bahnhofsmission leisten. Das ehrenamtliche Team erneuerte sich während der Corona-Pandemie, viele Ältere kamen nicht mehr, Berufstätige, die in Kurzarbeit waren, wie Flugbegleiter oder Beschäftigte aus der Gastronomie und Hotellerie verstärken jetzt das Team.
124 290 Kontakte zählte die Bahnhofsmission 2020. Die einst 9000 jährlichen Mobilitätshilfen, etwa beim Fahrkartenkauf oder beim Umsteigen, gingen während der Pandemie komplett zurück, Aufrechterhalten wurde hingegen mit einem pandemietauglichen Konzept "Kids on Tour" - die Begleitung von Kindern, die bei Zugfahrten von Frankfurt aus von Ehrenamtlichen im Fernverkehr begleitet werden.
Die Freiheit, zu gestalten
Carsten Baumann könnte noch lange weitererzählen. Er ist fasziniert von der "Freiheit, zu gestalten", die mit seiner Arbeit verbunden ist. Beispielsweise erfolgreich Netzwerke zu den verschiedensten Institutionen in der Stadt bis hin zu den Eintracht-Fans zu knüpfen. Draußen beim Eingang an der Mannheimer Straße warten zwei Polizisten mit einer jungen Frau. Einer trägt eine Plastiktüte mit ihren Sachen im Arm. Baumann geht sofort zu ihnen. Eine neue Geschichte beginnt in der Frankfurter Bahnhofsmission, die 24 Stunden am Tag 365 Tage im Jahr geöffnet ist. Jede kann kommen, jeder erhält Hilfe. red