„Ganz Oberrad ist unterkellert“

Unter dem Goldbergweg gibt es alte Gewölbekeller. Sie gehörten wohl einst zur Brauerei Stern, die im Stadtteil längst vergessen ist. Ein seltener Besuch.
Jede Oberräder Maus kennt wahrscheinlich die alten Gewölbe tief unter den Straßen des Stadtteils. Aber nur wenige Menschen wissen, dass es die Keller gibt. Umso neugieriger war die sechsköpfige Truppe, die jetzt ausgerüstet mit Grubentaschenlampen den Weg in die Tiefe antrat. „Ich will wissen, was da unten ist“, begründet der Gewerbevereinsvorsitzende Bernd Neumann den ungewöhnlichen Aufmarsch. Der Grundstücksbesitzer hat den Mitgliedern des Gewerbevereins und dem Vorsitzenden des Heimat- und Geschichtsvereins Guido Neumann erlaubt, den Keller auszukundschaften.
Im Garagenhinterhof im Goldbergweg wird also ein unscheinbares Gitter, das wie ein Gullygitter aussieht, vom Boden gehoben, ein paar Farne entfernt, und schon ist der Weg frei in den Untergrund Oberrads. Eine Treppe führt im Kreis 35 Stufen hinab ins Dunkle. Die Treppe und der Keller sind aus Backsteinen gemauert, an manchen Stellen ist die Wand verputzt. Je weiter runter es geht, desto kühler wird es. Um mehrere Ecken herum geht es in verschiedene Räume. In östlicher Richtung tun sich drei langgezogene Gewölbe auf. „Hier wurde vermutlich Eis gelagert“, meint Guido Neumann. Denn unter dem gemauerten Vorsprung verläuft ein Hohlraum, durch den Schmelzwasser abgeleitet werden konnte, am Boden ist eine Rinne zu erkennen. Niemand weiß so genau, wann die Gewölbe ursprünglich gebaut wurden. Fest steht aber, dass die Brauerei Stern, deren Gebäude einst genau unterhalb des Keller-Standorts zwischen Buchrainplatz und Mathildenstraße standen, mehrere Keller für die Produktion, Lagerung und Kühlung nutzte.

Gibt es einen Durchgang bis nach Sachsenhausen? Das ist nicht bewiesen
Die langen Gewölbe sind hinten zugemauert. „Sie gehen unter der Buchrainstraße weiter“, mutmaßt Bernd Neumann, „ganz Oberrad ist unterkellert. Womöglich bis nach Sachsenhausen.“ Denn dort hatte die Brauerei Henninger ihrerseits weitläufige Gewölbekeller, manch einem noch bekannt von der unterirdischen Discothek „Sachs-Keller“ in den 80er und 90er Jahren. „Dass es eine unterirdische Verbindung von dort nach Oberrad gibt, ist aber nicht bewiesen“, sagt der Heimatkundler Guido Neumann.
Die Brauerei Stern wurde 1921 von der Henninger aufgekauft. In Oberrad war sie seit 1850 ansässig, auf dem ehemaligen Gelände einer Klause. Der einer Frankfurter Bierbrauerfamilie entstammende Johann Nikolaus Stern, der zuvor als Mitinhaber eine Brauerei in Sachsenhausen betrieb, entschloss sich, im Gärtnerdorf ein eigenes Unternehmen zu gründen. Seine Frau und später die beiden Söhne führten es nach seinem Tod fort. Der Betrieb wuchs bis in die 1890er Jahre stetig und erfolgreich weiter, 1887 wurde die Brauerei gar zur Aktiengesellschaft. Alte Bilder aus einer Ausgabe der „Allgemeinen Brauer- und Hopfen-Zeitung“, die dem Heimatmuseum vorliegt, zeigen imposante Sud- und Kesselhäuser. Von großen Kupferkesseln, einer Mälzerei und zwei Maschinenhäusern ist die Rede, außerdem von riesigen Pferdestallungen für den Bier-Transport. Und von vielen Kellern: „Da unter dem Maschinenhaus sich Kelleranlagen hinziehen, ist die Maschine auf einer schweren, tragenden Eisenkonstruktion montiert, um die Kellergewölbe nicht zu belasten“ ist zu lesen. Einen Gärkeller gab es, in den 160 Gärbottiche à 35 Hektoliter passten, „oberhalb des großen Lagerkellers gelegen“, der wiederum einen „Fassungsraum von 44 000 Hektolitern“ hatte.

Die Gewölbe wurden als Luftschutzkeller genutzt und retteten vielen Oberrädern das Leben
In Oberrad ist die Brauerei in Vergessenheit geraten. Die Ältesten erinnern sich nur daran, im Zweiten Weltkrieg in den Gewölben vor den Bombeneinschlägen der Briten Schutz gesucht zu haben. So erinnert sich Guido Neumanns 98 Jahre alte Großtante Elfriede Neumann lebhaft an die Zeit im Luftschutzkeller in den damals noch vorhandenen Gewölben unter dem heutigen Rewe-Parkplatz. Diese sind heute zugeschüttet. Der Putz bröckelte unter den Einschlägen. „Sie nahm ihren Hund im Rucksack mit in den Keller“, erzählt Neumann. Eigentlich war es verboten, Tiere mitzunehmen. Oberrad wurde am 4. Oktober 1943 verwüstet, beim zweiten Angriff am 18. März 1944 dem Erdboden gleichgemacht. Bernd Neumann will erforschen, wie weit die Keller hinter der zugemauerten Wänden reichen. Der Heimatverein würde sich freuen, wenn sie zugänglich würden. Aber das ist Zukunftsmusik.