„Missbenennung“ Künstliche Intelligenz: KI aus Sicht der Frankfurter Sprachwissenschaft
Wie Künstliche Intelligenz die Hochschullandschaft in Hessen verändert – ein Gespräch mit dem Frankfurter Linguisten Dr. Zakharia Pourtskhvanidze.
Frankfurt – Regenmantel, fallende Blätter, sanft beleuchtete Bücherregale. Das ist das übliche Setting von Filmen und Romanen, die sich um Universitäten drehen. Meistens spielen diese Geschichten im Oktober. Der Herbst ist die Zeit, in der auch in Hessen das neue Semester beginnt. Kluge Gespräche mit Professoren in Tweed-Jacketts und faszinierende Lektüre, vor regennassen Fenstern, so die romantisierte Vorstellung vom Universitätsalltag.
Doch es ist 2023 und diese heile, gemütliche Welt im privilegierten Elfenbeinturm wird gehörig auf den Kopf gestellt. Künstliche Intelligenz ist längst zwischen Buchseiten und Hörsälen, in jeden noch so kleinen Zwischenraum eingedrungen und stellt auch die hessischen Hochschulen vor völlig neue Herausforderungen. Viel diskutiert werden dabei bisher vor allem die rechtlichen Fallstricke.

Künstliche Intelligenz für hessische Hochschulen eine völlig neue Herausforderung
Darf man KI im Wissenschaftsbetrieb einsetzen, wie sieht es mit der Urheberschaft aus? Was macht es mit den Studierenden, wenn sie ihre Hausarbeiten nicht mehr selbst schreiben müssen? Etwa die Hälfte der Studierenden, die der jungen Generation-Z angehören, also der heute bis 26-jährigen, hält laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Kantar die Verwendung von KI beim Erstellen von Hausarbeiten für Betrug. 50 Prozent halten gar ein Verbot für angemessen. 41 Prozent gaben an, Dienste wie ChatGPT oder die Übersetzungs-KI „DeepL“ bereits ausprobiert zu haben, oder sogar regelmäßig mit ihnen zu arbeiten.
Bei diesen Fragen geht es allerdings vor allem um den formellen Umgang mit künstlichen Intelligenzen im Hochschulbetrieb. Chancen und Gefahren werden ausgelotet, Formalitäten abgeklopft. Es gibt allerdings auch Fragen, die tiefer greifen, in die Bildungs- und Denkprozesse hinein. Diese Fragen sind oft schwieriger zu beantworten und seltener Teil der öffentlichen Debatte.
Wir sind diesen Fragen im Gespräch mit Dr. Zakharia Pourtskhvanidze nachgegangen. Als Linguist befasst er sich damit, wie Sprache unser Denken formt.
Eine beliebte Methode in den Geisteswissenschaften ist es, zunächst erst einmal die wesentlichen Begriffe zu klären: Ist „Künstliche Intelligenz“ überhaupt eine angemessene Bezeichnung für Systeme wie ChatGPT?
Frankfurter Sprachwissenschaftler: „Der Begriff Künstliche Intelligenz ist eine Missbenennung“
Dr. Pourtskhvanidze sieht schon darin eine bedauernswerte Missbenennung, die bereits so stark vergesellschaftlicht sei, dass sie nicht mehr rückgängig zu machen ist. Der Begriff „Künstliche Intelligenz“ wecke Ängste, weil Unnatürlichkeit damit in Verbindung gebracht würde. Für eine präzisere Alternative hält er die Bezeichnung „Maschinelle Intelligenz“. Somit würde gleich klar werden, womit wir es zu tun haben: Einer eloquenten Rechenmaschine, und nicht mit einer Art künstlichem Gehirn.
Doch auch der Begriff „Intelligenz“ müsse jetzt neu verstanden werden. Bei disruptiven Innovationen, also Erfindungen, die eine Gesellschaft mit bisher ungekannten Herausforderungen konfrontieren, müssen, so Pourtskhvanidze, stets auch die Begriffe, mit denen kommuniziert wird, auf den neuesten Stand gebracht werden. Intelligenz sei damit nicht mehr ein Privileg von Lebewesen. Wenn Intelligenz entsprechend einer „Reiz-Reaktions-Handlung“ verstanden und bewertet würde, könne selbstverständlich auch eine Maschine mehr oder weniger intelligent agieren, erklärt Dr. Pourtskhvanidze.
Unis in Hessen: Verändert unser Umgang mit Künstlicher Intelligenz unser Denken an sich?
Etwas, das uns als Menschen auszeichnet, ist unsere hohe Anpassungsfähigkeit. Doch genau in diesem evolutionären Vorteil könnte sich ein Risiko verbergen, das bisher wenig beachtet zu werden scheint. Forschende und Studierende im Bereich der Geisteswissenschaften verwenden Sprache nicht ausschließlich, um Ergebnisse und Erkenntnisse zu protokollieren oder mitzuteilen. In den Geisteswissenschaften ist die Sprache selbst oft auch Gegenstand und Werkzeug der Forschung zugleich. Und genau hier wird es spannend.
KI-Systeme wie ChatGPT sind Sprachroboter. Wenn man nun mithilfe der KI zum Ergebnis eines Denkprozesses gelangen will, muss man der KI einen entsprechenden „Prompt“ geben, seine Anforderungen und Ideen sprachlich formulieren. Wenn man jetzt im ersten Versuch nicht zum gewünschten Ergebnis gelangt, muss man diesen Prompt umformulieren. Man passt also die eigenen Gedanken und Argumentationen, solange an, bis die KI es „richtig“ versteht und ein zufriedenstellendes Ergebnis ausspuckt. Was hier so ganz beiläufig passiert, führt zu einer entscheidenden Frage: Verändert unser Umgang mit der KI, wenn wir sie so direkt in unseren Denkprozessen teilhaben lassen, unser Denken an sich?
„Großes Ja“, antwortet Dr. Pourtskhvanidze, „unser Denken wird dadurch verändert.“ Allerdings sei das, in abgeschwächter Form, auch schon der Fall, seit wir Mitte der Neunziger Jahre angefangen haben, Heimcomputer in unseren Alltag zu integrieren, führt er den Gedanken fort.
Künstliche Intelligenz: Technologien wie ChatGPT verdeutlichen, wo der Mensch unabkömmlich ist
Je stärker moderne, digitale Technologien in den Bildungseinrichtungen Einzug hielten, desto unübersichtlicher schien ihm das Bildungswesen zu werden. Dr. Pourtskhvanidze empfand in seiner Rolle als Dozent an der Goethe-Uni Frankfurt die Menge an E-Learning-Geräten, und Content-Management-Systemen bald als übertrieben: „Plötzlich war der Vorlesungsraum voller Gadgets“. Doch stießen ihn diese Umstände bald auf eine Frage, in der er auch jetzt die eigentliche Chance sieht, die in dem Umgang mit KI-Technologien liegen könnte: „Was [von diesen Technologien] ist wichtig für Information und was für Bildung?“, fragt sich der Wissenschaftler.
Eine Enzyklopädie wie Wikipedia könne informieren. Bilden könne sie nicht. Eine Technologie wie ChatGPT könne im Hochschulbetrieb, seiner Erfahrung nach, demnach wie ein Kontrastmittel wirken. Die maschinelle Intelligenz verdeutliche, wo der Mensch unabkömmlich ist.
Da sind wir dann auch wieder bei unseren Hollywood-Professoren im Tweed-Jackett und den anregenden Gesprächen: „Bildung funktioniert nur bei einem live gesprochen, in Zeit und Raum eingegrenzten Wort.“ beschreibt Dr. Pourtskhvanidze seine Lehrerfahrung. Der Hörsaal, in dem diskutiert wird und der Seminarraum, in dem gemeinsame Projekte erarbeitet werden, könnten nun wieder stärker ins Zentrum der Hochschulen rücken. „Das hat das Edukative Imperativ. Kein aufgezeichneter Lerninhalt kann diese Emotion, dieses Lernethos vermitteln. Ein Roboter kann es auch nicht.“
Außerdem brauche es auch produktive Missverständnisse, um innovativ zu lehren und zu forschen. Falsches Verständnis führe manchmal zu richtigen Ergebnissen. Diese Phänomene würden jetzt deutlicher in seinen Seminaren zum Tragen kommen, berichtet Pourtskhvanidze, denn eine maschinelle Intelligenz könne das nicht, sie sei auf Perfektion programmiert.
„Wenn dann ein Student aufsteht und etwas sagt, bei dem ich denke, das habe ich ihm nicht beigebracht. Das kommt durch die Atmosphäre. Es ist prozessuale Erkenntnis, die durch den 90-minütigen Gesamtprozess der Vorlesung erlangt wird.“
KI an hessischen Universitäten: Maschinenintelligenz „halluziniert“ Quellen
Das Denken und Diskutieren sollten die Studierenden sich demnach nicht von den Maschinen abnehmen lassen. Allerdings sind maschinelle Intelligenzen mächtige Dienstleister, die auch Pourtskhvanidze in seiner Arbeit nicht mehr missen möchte. ChatGPT kann in wenigen Sekunden 800 Quellen überprüfen und dem Wissenschaftler Tendenzen liefern, die er unmöglich „zu Fuß“ in einem vernünftigen zeitlichen Rahmen erlangen könnte.
Wenn es um hundertprozentige Informationen gehe, so sagt er, müsse man selbst ran, da sei die Maschine nicht zuverlässig. Es besteht dann auch die Gefahr, dass Quellen von der Maschine „halluziniert“ werden. Der Algorithmus produziert dabei Fehlinformationen, die plausibel klingen, aber inhaltlich und fachlich falsch sind, wovor Informatikprofessorin Iryna Gurevychin von der TU Darmstadt in einem Artikel der Hochschulzeitung hoch3 im Juli ausführlich gewarnt hat.
Unis in Hessen: Künstliche Intelligenz im Hochschulbetrieb ermöglicht „neues Lesen“
Sinnvoll angewandt, ermögliche die Technologie jedoch eine neue Wissenschaft. Es sei jetzt ein „neues Lesen“ möglich. Das stelle vor allem in den Geisteswissenschaften alles auf den Kopf. Datenbanken können nun erstmals tatsächlich vollständig ausgewertet werden, bei geringstem Zeitaufwand. Damit würde es jetzt realistisch möglich, Forschungslücken auszumachen und zu schließen. Denn nur wer ausnahmslos alle vorhandenen Daten auswerten kann, könne eine sichere Aussage über Forschungslücken treffen.
Beim Umgang mit künstlichen Intelligenzen in Forschung und Lehre wird es also vor allem darauf ankommen, diese sinnvoll anzuwenden. Auf inhaltlicher Eben können sie als „Prozessbeschleuniger“ die Geisteswissenschaften revolutionieren. Für die Bildung hieße das, das reine Informieren und Verarbeiten großer Datenmengen würde uns weniger aufhalten. Dr. Pourtskhvanidze erkennt darin die große Chance „den Fokus wieder auf das zu legen, was wirklich bildet, da die KI uns zwingt, darüber nachzudenken, was es heißt, Mensch zu sein.“ (Jonathan Binhack)
Korrekturhinweis: In einer früheren Version des Artikels hieß es, Dr. Zakharia Pourtskhvanidze sei Leiter des Studiengangs „Empirische Sprachwissenschaft“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Herr Pourtskhvanidze war bis 2020 Dozent an der Goethe-Universität, ist inzwischen aber bei einem Drittmittelprojekt angestellt. Wir bitten, diesen Fehler zu entschuldigen.