Philosophieren mit Nietzsche und Epikur

Der Philosophische Lesekreis des Vereins Polymer-FM bietet in Fechenheim für Laien und Profis interessante Ideen.
Frankfurt – Einer Meinung werden Rose Brieskorn und Marietheres Rühle an diesem Abend nicht. "Freiheit und Verantwortung in der Corona-Krise" lautet das Thema im Philosophischen Lesekreis des Vereins Polymer-FM. Brieskorn ist unzufrieden, wie die Gesellschaft und Politik mit der Krise umgehen.
Sie ist 77 Jahre alt und hat sich mit einer blauen Bluse und weißen Hose für den Lesekreis schick gemacht. "Ich gehöre zur sogenannten Risikogruppe", sagt sie. Bei ihr hätten Bekannte angerufen und Hilfe angeboten. Brieskorn ist darüber noch immer empört, denn sie empfand die Angebote als eine Bevormundung. "Ich will meine Freiheit behalten", sagt sie. Auch das Hin und Her mit der Maskenpflicht stört sie: "Erst hieß es, die Masken bringen nichts, drei Wochen später waren sie Pflicht."
Da schaltet sich Marietheres Rühle ins Gespräch ein. Sie ist 88 Jahre alt, trägt ein gelbes Jacket, eine gelbe Hose und eine schwarze Bluse. "Für die Politiker war es doch auch das erste Mal, dass sie mit einer Pandemie umgehen mussten", verteidigt sie die Corona-Politik. Dabei bleibt es. Eine Einigung wird im Lesekreis nicht angestrebt. Warum auch? Verschiedene Meinungen können hier neben einander bestehen, ohne das jemand beleidigt wäre.
Der Junkie und der Pädagoge
Es ist eine wild zusammengewürfelte Gruppe, im Begegnungszentrum in der Straße Alt-Fechenheim. Neben Rühle und Brieskorn sitzt da in Jeansweste und Kapuzenpullover Hermann Wittmann, 54 Jahre alt. Er nennt sich selbst einen "Philosophie-Junkie". Er sei mal Buddhist gewesen, war bei Hare-Krishna und beginnt seine Sätze oft mit "Das ist doch wie bei Erich Fromm", oder mit einem Verweis auf einen anderen Philosophen. Heribert Neuhaus, der Leiter des Lesekreises, unterbricht ihn oft, weil er das Gefühl hat, Wittmann kommt vom Thema ab. "Über alles darf im Lesekreis gesprochen werden, aber nicht über irgendwas", sagt der pensionierte Lehrer.
Mit Brieskorn ist Jürgen Ott das erste Mal zum Lesekreis gekommen. Einen "Stoiker" nennt ihn Neuhaus an diesem Abend. Es geht um Angst und dass sie sich auf die Vorstellung von etwas Schlechtem richtet, nicht auf etwas, dass tatsächlich passiert ist. "Meine Vorstellung von dem, was ist, und das, was die Wirklichkeit ist, ist nicht dasselbe", erklärt Neuhaus. Was soll man mit dieser Erkenntnis anfangen? "Am besten, man lebt positiv und konzentriert sich nicht darauf, dass einen beispielsweise die Frau verlassen könnte", findet Ott. "Aber das kann passieren", erwidert Neuhaus. Ott: "Das weiß ja jeder. Man nimmt es dann hin, wenn es passiert ist." Neuhaus: "Wissen sie, was sie sind? Ein Stoiker." Also ein Vertreter einer antiken philosophischen Strömung, deren Ethik darauf zielt, mit Gelassenheit auf negative Gefühle und Erlebnisse zu reagieren. "Stoiker", noch bevor Neuhaus das erklären kann, fragt Ott: "Wollen sie mich beleidigen?". Er lacht und alle lachen mit.
Das erste Mal dabei ist auch Kai Kressel im schwarzen Jackett mit einem Schal um den Hals. Der 53 Jahre alte Mann hat zuletzt mit einer Arbeit über Hegel sein Philosophiestudium abgeschlossen. Mit Fachsprache hält er sich in den Diskussionen zurück. Er will nicht, dass ein paar Philosophiestudierte das Gespräch dominieren und alle anderen außen vor bleiben.
So ist das auch bei Neuhaus. Ein Treffen nennt er dann gelungen, "wenn die Sprache für jeden verständlich ist". Wenn der Leiter eine lateinische Phrase erwähnt oder einen arg kompliziert schreibenden Philosophen zitiert, entschuldigt sich Neuhaus, bevor er es verständlich erklärt.
Auch die Lektüre, die bei den Treffen laut vorgelesen wird, wählt Neuhaus so aus, dass sie verständlich ist. Oft sind es Zeitungsartikel oder kurze Passagen aus philosophischen Werken, in dem die Essenz des Gedankens möglichst verständlich ausgedrückt wird. An diesem Abend sind es Artikel aus einem Philosophiemagazin, die kopiert auf den Tischen für die Teilnehmer bereitliegen.
Für alle verständlich
Wohl niemand hat in diesem Kreis das Gefühl, nicht gebildet genug zu sein. Aber auch dem Philosophiestudenten Robert Frommknecht, 21 Jahre alt, werden die Treffen nicht langweilig. Seit zwei Jahren besucht er sie. Er findet hier neue Gedanken, etwa jene der Philosophin Thea Dorn. Im Artikel beschreibt Dorn die Schutzmaßnahmen in der Corona-Krise als Balanceakt. "Weil das Ideal des mündigen Bürgers sonst irgendwann durch das Bild eines zu behütenden Mündels ersetzt wird." Es ist, als hätte Briekorn der Philosophin von ihrer Empörung erzählt, weil sie als Hilfsbedürftige behandelt wurde, und die Philosophin Dorn beschrieb es darauf hin als ein mögliches gesellschaftliches Problem. Ob man diese Sicht teilt, ist in diesem Kreis egal. Interessant sind solche Gedanken allemal. Friedrich Reinhardt