Liebe Kinder, gebt fein acht...

Mit einem weihnachtlichen Vorlesenachmittag bietet der Verein "Chancen für Kinder" Spaß und beugt späteren Lesedefiziten vor - und das nicht nur zur Weihnachtszeit.
Frankfurt – Tobias Osterheider betreut Erwachsenengruppen und absolvierte zudem eine Sprecherausbildung in der Musikakademie. "Doch Kinder sind noch mal ein ganz anderes Publikum, da sie auch mal unruhig werden", weiß der Ergotherapeut und Lesepate des Vereins "Chancen für Kinder". Daher liest er die weihnachtliche Backgeschichte "Der Muffin-Club" von Katja Alves und Elli Bruder nicht nur in wohlakzentuierter Stimme, sondern fragt zwischendurch die Zutaten für das beliebte Gebäck ab, um seine Zuhörer auch ein wenig zu fordern.
Doch die kleine Runde im Lesezimmer des katholischen Kindergartens Sankt Antonius ist keinesfalls verlegen: "Mehl, Eier, Zucker", rufen die Mädchen und Jungen und staunen umso mehr, dass in der Geschichte statt der Muffins zunächst ein Geigenkoffer im Backofen landet. Zwei Räume weiter liest die Kollegin Gabriele Seynsche aus Lorenz Paulis und Kathrin Schärers Zoogeschichten "Rigo und Rosa", Marianne Sauermann bietet in Miriam Moss' und Maggie Kneens "Der Schneebär" sogar Kinderliteratur zum Anfassen: "Denn die Abbildungen sind so gestaltet, dass man die Konturen des Fells und der Augen sogar erfühlen kann", erläutert sie.
Klar, dass das die Kinder bärenstark finden und in einer weiteren Geschichte verfolgen, wie man bei Meister Petz Weihnachten feiert.
So raffen sich immerhin 30 Kinder und drei Lesepaten kurz vor Heiligabend noch einmal auf, um weihnachtliche und alltägliche Geschichten zu lesen und zwischendurch zu basteln. So entstehen in den Lesepausen kleine Geschenktüten, Kerzengläser und selbst gestaltete Weihnachtskarten.
"Der Kindergarten Sankt Antonius hat uns die Räume gerne und sogar kostenlos zur Verfügung gestellt, zumal hier das Friedenslicht von Bethlehem Station macht und die Kinder in den hektischen Tagen so kurz vor Weihnachten gerne mal runterkommen wollen", stellt Christiane Leonhardt fest. Sie ist Pfarrgemeinderätin und Vorstandsvorsitzende des Vereins "Chancen für Kinder".
Doch der eigentliche Schwerpunkt des Vereins liegt in der Förderung des Lesens und Vorlesens, wie ihn die Stiftung Lesen durch den Lesepakt anstrebt. "Nach der Vorlesestudie von 2019 liest rund ein Drittel der Eltern ihren Kindern zu wenig vor", erklärt Leonhardt. Wünschenswert wären etwa 15 Minuten täglich Lesen oder auch Erzählen. Doch 16 Prozent der Eltern lesen ihren Kindern nur einmal die Woche vor, 8 Prozent tun das selten, weitere 8 Prozent nie. Und dieser Trend hat gravierende Folgen: "Jeder fünfte 15 Jahre alte Schüler in Deutschland kann nach der aktuellen PISA-Studie nicht richtig lesen." Damit liege Deutschland international zwar im Mittelfeld, jedoch erheblich schlechter als Finnland, Estland oder Kanada. Deshalb gründete die Unternehmensberaterin 2017 den Verein "Chancen für Kinder e. V.", um Lesepaten auszubilden und mit verschiedenen Projekten Kinder aus eher bildungsfernen Familien zu erreichen.
"Manche Kinder können zum Schulanfang schon schreiben und Klavier spielen, andere haben Mühe, einen Stift zu halten oder still zu sitzen", stellt Leonhardt fest. Das müsse nicht am Unterricht und der Betreuung in den Schulen und Kindergärten liegen. "Doch unser Schulsystem setzt voraus, dass Eltern ihre Kinder zu Hause unterstützen - und das schon in der Kindergartenzeit."
Leonhardt ließ zunächst sieben Lesepaten durch das Fortbildungsprogramm des Familienpastoral des Bistums Limburg in der Stimmführung und dem Einsatz von Hilfsmitteln ausbilden, um Leseveranstaltungen in Frankfurter Kindereinrichtungen anzubieten. Doch im Projekt "Lesekoffer" möchte sie noch einen Schritt weitergehen.
"Wir wollen die Lesepaten mit ausgewählten Büchern, Vorschulblöcken und Heften auch bei ausgewählten Familien auf Hausbesuche schicken, um sie dort beim Vorlesen oder dem Einrichten von Leseecken zu unterstützen", erklärt Leonhardt weiter. Allerdings würde für die Ausbildung weiterer Paten sowie die Anschaffung von Büchern, Heften und Regalen ein höherer Betrag benötigt, den Leonhardt in einer Größenordnung von 10 000 bis 15 000 Euro veranschlagt. Geld, das durch Spenden, Sponsoren und Vereinsbeiträge investiert werden soll - der Zukunft der Kinder zuliebe. "Erste Privatpersonen haben ihre finanzielle Unterstützung bereits zugesagt", freut sich die Vorsitzende.
VON GERNOT GOTTWALS