„Ich wurde von meinem Kind amputiert“

Eine Frankfurterin kämpft darum, endlich wieder ihre behinderte Tochter zu sehen.
Ein Alptraum sei das, was sie seit knapp zwei Jahren erlebe, sagt Marion F. (57). Die Frankfurterin ist verzweifelt. Seit gut 22 Monaten hat sie ihre Tochter Sina nicht mehr gesehen. Denn die 19-Jährige, bei der schon vor Jahren frühkindlicher Autismus diagnostiziert wurde, ist nach einer Anhörung vor Gericht bei ihrem Vater in der Nähe von Hanau gelandet, der jeglichen Kontakt mit der Mutter verweigert. Nur einige Fotos auf ihrem Handy sind Marion F. geblieben, ein Schriftzug auf ihrem linken Unterarm, auf den sie sich Sinas Namen in verschlungenen Buchstaben tätowieren ließ - und ein Ordner voll mit Unterlagen, die vom verwickelten Kampf um ihre Tochter zeugen.
13 Jahre war sie mit dem Mann zusammen, den sie heute nur noch „KV“ nennt - die Abkürzung für Kindsvater. Als stur und manipulativ beschreibt sie ihn: „Er lässt sich von niemandem etwas sagen, hat nie Freunde gehabt, ist mit allen zerstritten.“
Als Sina fünf Jahre alt ist, schafft sie es endlich, sich von ihm zu trennen, und erreicht auch das alleinige Sorgerecht für das kleine Mädchen. Dennoch hören die Streitereien nicht auf. Mehr als zehn Jahre lang seien sie immer wieder vor Gericht gewesen, erzählt sie: „Es hat immer Stress gegeben.“
Auch ein Frankfurter Justizsprecher, der sich aus Datenschutzgründen nicht explizit zu dem Fall äußern will, lässt durchblicken, dass es sich um extrem komplizierte Verfahren gehandelt habe, weil die beiden Parteien so zerstritten seien.
Vater verweigerte den Unterhalt
Mehrmals fordert der Vater, der Sina alle zwei Wochen jeweils von Donnerstag bis Montagmorgen mitnehmen darf, mehr Umgang mit seiner Tochter. Irgendwann verweigert er den Unterhalt, bestreitet sogar, dass sie überhaupt eine Behinderung hat. „Er hat nicht eingesehen, dass sie Autismus hat und auch nierenkrank ist“, sagt Marion F. Dabei habe Sina nie Lesen und Schreiben gelernt, sei von ihrer geistigen Entwicklung mit einem sechsjährigen Kind zu vergleichen, kenne auch Fremden gegenüber keinerlei Distanz.
Irgendwann machen sich auch die Lehrer an der Mosaikschule in der Nordweststadt, die Sina besucht, Sorgen um das Mädchen. Denn nach den Wochenenden beim Vater sei sie immer „völlig durch den Wind“ gewesen, beschreibt Marion F. Schließlich setzt sich die Schule mit dem Frankfurter Jugendamt in Verbindung - mit einer Meldung wegen Kindeswohlgefährdung. Ihr Verdacht: Der Vater verhalte sich übergriffig. Auch die Anwältin der Mutter spricht von einem „grenzüberschreitenden Verhalten“ des Mannes: Selbst als Sina schon fast erwachsen ist, habe er ihr beim Duschen geholfen und sie anschließend eingecremt. Dabei sei es gerade bei ihrer Behinderung wichtig, dass sie lerne, sich abzugrenzen, sagt die Juristin. Schließlich ordnet das Gericht an, dass der Mann nur noch begleiteten Umgang mit Sina haben darf. Wieder gibt es Streit, der Vater lehnt zwei Umgangspflegerinnen ebenso ab wie einen Gutachter, hat monatelang überhaupt keinen Kontakt mit seiner Tochter.
Eklat nach Gerichtstermin
Anfang Februar 2021 aber kommt es wieder zu einer Anhörung bei der Justiz. Diesmal allerdings nicht mehr am Familiengericht, das für die inzwischen 18-jährige Sina nicht mehr zuständig ist, sondern am Betreuungsgericht. Es soll darüber befinden, wer künftig bei der Betreuung des Mädchens das Sagen hat. Eine Formalie, denkt Marion F. angesichts der Tatsache, dass sie bisher das alleinige Sorgerecht für ihre Tochter hatte. Doch direkt nach dem Termin sei es zum Eklat gekommen. Während die damalige Lebensgefährtin des Vaters mit Sina auf einer Bank sitzt und sie im Arm hält, baut sich der Vater vor Marion F. auf und herrscht sie an: „Sina geht nicht mit dir mit.“
Die Frankfurterin ist überrumpelt, hilflos, will ihr Kind nicht mit Gewalt wegzerren, um es nicht noch mehr zu verstören. Ihre Anwältin holt den Richter. Der ist offenkundig überfordert, zumal Sina zu schreien beginnt und ihren Kopf gegen die Wand schlägt, während ihr Vater auf ihn einredet.
Und dann geschieht das Unfassbare, das Marion F. immer noch nicht begreifen kann: Der Amtsrichter gibt dem Mann nach - trotz des früheren Vorwurfs der Kindeswohlgefährdung. „Nehmen Sie sie mit“, sagt er zum Vater, wendet sich ab und geht. „Das war wie im falschen Film“, sagt die Frankfurterin unter Tränen. „Ich wurde ohne Grund von meinem Kind amputiert.“
Jeglichen Kontakt mit ihrer Tochter habe der Vater seither verhindert. Weder sie selbst noch ihre Freunde aus der Mosaikschule dringen zu ihr durch, die Schule hat sie seit jenem Tag im Februar 2021 nicht mehr besucht. Nicht einmal Sinas offiziell bestelltem Betreuer gelinge es, mit ihr in Verbindung zu bleiben, erzählt Marion F.: „Er hat sie ein einziges Mal beim Vater besucht und hat sie zweimal vor Gericht gesehen. Das war bisher der ganze Kontakt.“ Statt jedoch schnell eine Entscheidung zu treffen, fordert der Richter weitere Expertisen an. Doch auch den Gutachter blockt der Vater ab. „Und er kommt damit durch, das kann doch nicht sein“, empört sich die verzweifelte Mutter. Eingaben und Beschwerden ihrer Anwältin bei einem übergeordneten Richter sowie bei der Gerichtspräsidentin bleiben ohne Erfolg.
Notfalls mit Polizei und Gerichtsvollzieher
Erst Ende September, also eineinhalb Jahre nach jener verhängnisvollen Anhörung, trifft der Amtsrichter eine Entscheidung: Sina soll künftig weder bei ihrem Vater noch bei ihrer Mutter, sondern in einer Einrichtung für behinderte Menschen leben. Notfalls dürften Betreuer, Gerichtsvollzieher und Polizei Sina sogar mit Gewalt aus der Obhut ihres Vaters holen, heißt es in dem Beschluss. Denn: „Die Herausgabe ist zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für die Betreute erforderlich. Es besteht die Gefahr einer weiteren Entfremdung der Betreuten hinsichtlich ihrer Mutter, einer Isolierung der Betreuten sowie einer Verwehrung weiterer Entwicklungsmöglichkeiten.“
Das Problem: Plätze in Einrichtungen, die für Sina geeignet wären, sind rar. Seit Wochen suche sie mit dem Betreuer fieberhaft nach einer solchen Unterbringungsmöglichkeit, schildert Marion F. Bisher vergeblich. Und ohne einen solchen Platz dürfe das Mädchen nicht aus dem Haus des Vaters geholt werden. Obwohl er sich über alle möglichen Grenzen hinweggesetzt habe, werde er für sein Verhalten letztlich belohnt, weil Sina immer noch bei ihm sei, während sie selbst keinen Kontakt zu ihr haben könne, bilanziert sie bitter: „Das ist unfassbar.“ Inzwischen ist die Mutter mit ihren Nerven am Ende. Jahrelang hätten sie und die Schule versucht, ihre Tochter so fit wie möglich zu machen, sagt sie. „Und er macht jetzt alles zunichte. Auch ihre sozialen Kontakte hat er zerstört.“
Kritik üben sie und ihre Anwältin auch am zuständigen Richter. Dass er das Mädchen mit dem Vater gehen ließ, trotz der problematischen Vorgeschichte. Dass er das Verfahren über eineinhalb Jahre verschleppt und immer neue Gutachten angefordert habe, obwohl die Sachlage eigentlich klar sei.
Eineinhalb Jahre nach ihrer Beschwerde bei der Gerichtspräsidentin hat Marion F. kürzlich eine Antwort erhalten: Man habe die Vorgänge geprüft und sehe keinen Grund für dienstaufsichtsrechtliche Maßnahmen gegen den betreffenden Richter. Über diese Einschätzung kann die Mutter nur frustriert den Kopf schütteln: „Für mich“, sagt sie, „ist das ein Justizskandal, was da passiert ist.“