In Frankfurt die Heimat gefunden

Neue Autorin der Bibliothek der Generationen stellt sich vor
Frankfurt -Dem Geschichtsunterricht ihrer Schulzeit konnte Christine Hartwig-Thürmer wenig abgewinnen. Denn Geschichte lebt für sie nicht von trockenen Daten und Zahlen aus Schulbüchern, sondern von empathischen Erzählungen. Oder Versen wie diesen: „Über die leeren Felder wirbelt der Wind mich hin, aber ich weiß nicht, wo ich einmal zu Hause bin.“ Noch immer ist die Historikerin bewegt und kämpft mit den Tränen, als sie diese Zeilen ihrer Mutter im Historischen Museum vorträgt: Sie stellt dort ihren mit der Künstlerin Asal Kosravi gestalteten Beitrag „Heimat vertrieben, Heimat (wieder)gefunden“ für die „Bibliothek der Generationen“ vor.
Ihr eigenes Buch mit Erinnerungen und Bildern aus dem Leben ihrer vertriebenen Eltern und ihren eigenen Lebensstationen gehört dazu, ein Feldforschungstagebuch des Stadtlabors des Historischen Museums über eine verborgene Haus- und Vertreibungsgeschichte in der Bockenheimer Landstraße 76 und die eigene Abschlussarbeit „Kunstpolitik im Nationalsozialismus“. Zu den rund 30 Objekten zählen weitere Bücher und Broschüren, Fotos, Dias, ein zusammenschiebbarer Becher für die Flucht der Eltern 1945 aus Oberschlesien und Hinterpommern und ein Modell der Paulskirche.
Bevor diese Sammlung öffentlich zugänglich wird, stehen noch gut zwei Monate Inventarisierung an, räumt Kuratorin Angela Jannelli ein: Sie verweist auf das auf 105 Jahre ausgelegte Projekt der Künstlerin Sigrid Sigurdsson, an dem sich 138 Autorinnen und Autoren mit ihren Erinnerungen beteiligen. Rund 100 Beiträge sind bereits eingegangen, der von Hartwig-Thürmer beschäftigt sich als erster schwerpunktmäßig mit dem Thema Flucht und Vertreibung.
Ihr Beitrag spannt einen Bogen von der Herkunft ihrer Eltern über den Neubeginn in Wolfsburg, wo die Autorin 1954 geboren wird und ihre Kindheit in Ginsheim-Gustavsburg verbringt, bis zur eigenen Heimatsuche, die in Frankfurt endet. Um sich mit den Folgen der NS-Zeit näher zu beschäftigen, studierte Hartwig-Thürmer Geschichte und Germanistik in Mainz, erstellte Zeitzeugenberichte für den Hessischen Rundfunk, arbeitete nach dem Referendariat in Rüsselsheim als Lehrerin für allgemeinbildenden Unterricht beim Internationalen Bund und als Historikerin zur NS- Geschichte im Studienkolleg/Internationalen Studienzentrum der Goethe-Universität und für das Historische Museum.
„Zwischen Mainz, Ginsheim-Gustavsburg, Rüsselsheim und Frankfurt stellte sich auch mir persönlich die Frage, wo meine Heimat ist“, berichtet Hartwig-Thürme. Die Antwort ergab sich, als sie ihren Mann kennenlernte und zu ihm nach Bockenheim zog, die Mainmetropole mit ihren multikulturellen Facetten schätzen lernte.
Die Familiengeschichte aufarbeiten
Wie aber gingen die Eltern mit dem Thema um? „In der Wirtschaftswunderrepublik ging der Blick nach vorne“ stellt sie fest. Manches „Familiengeheimnis“ der Vertreibung aus der Heimat blieb unausgesprochen - auch der damalige Suizid eines Cousins. Die Entbehrungen der Flucht aus Schlesien und Hinterpommern wurden verdrängt. „Wir schaffen das!“, hieß es auch damals. „Mein Vater wollte die Dinge lange unter den Teppich kehren, schenkte uns erst spät einen Bericht über die letzten Kriegstage.“
„Erinnerungskultur war in unserer Familie immer ein Thema“, erklärt ihre Tochter Paula. Und als Hartwig-Thürme feststellte, dass die Tochter von der Oma ihr selbst unbekannte Dinge erfahren hatte, wuchs auch aus der jahrelangen Zusammenarbeit mit dem Historischen Museum der Wunsch, die Familiengeschichte aufzuarbeiten und der Nachwelt zu hinterlassen. Gernot Gottwals