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„Ethisch fragwürdig“: Psychologin beurteilt Mitgliederwerbung der Klimaaktivisten „Letzte Generation“

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Von: Sarah Bernhard

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Psychologin aus Frankfurt hat sich die Trainings- und Bindungsstrategien der Klimaaktivisten „Letzte Generation“ im Selbstversuch angesehen und schildert ihre Eindrücke.

Frankfurt - „Hast du auch eine Scheißangst, alles zu verlieren, wenn das Klima weiter destabilisiert wird? Schon bald wird es zu spät sein, und die Gesellschaft verschließt die Augen.“ So begrüßt einen die Homepage der Klimaschutzbewegung „Letzte Generation“, also jenen, die sich auf Autobahnen oder an Gemälderahmen kleben und dafür Gefängnisaufenthalte und Verurteilungen in Kauf nehmen. Reichen diese zwei Sätze, um auf eine Weise zivilen Ungehorsam zu üben, die gezielt den Alltag vieler anderer beeinträchtigt und mit der steigenden Wut der Autofahrer immer gefährlicher wird?

Das hat sich auch die Psychologin Maria-Christina Nimmerfroh aus Frankfurt gefragt. Deshalb schrieb sie sich in eines der Online-Aktionstrainings der Gruppe ein und blieb danach dabei, um Zugang zu den Schulungsunterlagen für Trainingsleiter zu bekommen. „Und glauben Sie mir: Das sind keine paar Spinner, die sich auf Kreuzungen kleben. Beim Marketing und der Rekrutierung ist das eine absolut professionelle Organisation“, sagt die Diplom-Psychologin, die an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg unter anderem zum Thema Soziale Bewegungen lehrt. „In dieser Perfektion habe ich das bei einer Nichtregierungsorganisation bisher nur ganz selten gesehen.“

Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ haben sich in Frankfurt von einer Brücke über der A661 abgeseilt und damit für einen lange andauernden Stau gesorgt. Das Bild entstand im April 2022.
Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ haben sich in Frankfurt von einer Brücke über der A661 abgeseilt und damit für einen lange andauernden Stau gesorgt. Das Bild entstand im April 2022. © picture alliance/dpa

Psychologin aus Frankfurt über Klimaaktivisten: „Sie haben eine völlig andere Art der Mitgliederwerbung“

Ein Aktionstraining ist allerdings schon Schritt zwei. In der Regel beginnt ein Engagement bei der „Letzten Generation“ mit dem Besuch eines Vortrags über die Folgen des Klimawandels. Dazu eingeladen wird nicht nur mit Flugblättern und Plakaten, sondern auch an der Haustür, laut einem internen Dokument der Gruppe, das dieser Zeitung vorliegt, vor allem in linken, grünen oder studentischen Nachbarschaften. Vor und nach dem Vortrag treten die „Rebel Ringers“ auf den Plan, eine Art Telefon-Marketingabteilung, die die Menschen ermuntert, dranzubleiben. „Das ist eine völlig andere Art der Mitgliederwerbung als in anderen NGOs“, sagt Nimmerfroh.

Eine weitere Besonderheit, die sie so noch nie beobachtet habe: die frühe, enge Bindung der Mitglieder. „Der Umgang ist, anders als zum Beispiel bei Fridays for Future oder der Antifa, extrem persönlich und wertschätzend. Man teilt von Anfang an seine Emotionen, so dass ein starker Zusammenhalt entsteht.“ Später bei den Aktionen gibt es Teilnehmer, die sogenannten Gärtner, die sich nur ums Wohlergehen der Kleber kümmern, im Trainings-Handout gibt es eine ganze Sektion über Meditationstechniken und mentale Gesundheit während der Haft.

Die enge Bindung von Anfang an sei notwendig, weil die „Letzte Generation“ Menschen sucht, die tatsächlich handeln - auch gegen das Gesetz. Immerhin tut sie das offen: „Wir haben einen Plan zivilen Widerstands, der hohe Opferbereitschaft erfordert, doch eine Chance hat, zu funktionieren“, heißt es auf der Homepage. Jenseits des Kennenlern-Vortrags sind Fakten deshalb nicht mehr gewollt: „Fakten führen nur zum Verstehen, nicht dazu, was zu machen“, sagt der Schauspieler Raúl Semmler in einem Trainingsvideo für Trainer, in das diese Zeitung Einblick hatte.

Psychologin aus Frankfurt analysiert emotionalen Zusammenhalt der Klimaaktivisten der „Letzten Generation“

Menschen zum Handeln zu bewegen, gelinge nur durch Emotionen. „Emotionen erzeugen Aufbruchstimmung“, so Semmler, weshalb man die Folgen des Klimawandels erst „drastisch unangenehm“ darstellen solle, um dann „mitreißend einen Möglichkeitsraum aufzuzeigen“. Und hier werde es problematisch, sagt Nimmerfroh, die über sechs Stunden Trainingsvideos und diverse Dokumente ausgewertet hat: „Bei der Antifa, Fridays for Future und früher bei den Grünen wurde und wird Abende lang über Maßnahmen und Forderungen diskutiert. Hier entscheidet ein kleines Team und alle übrigen führen aus.“

Beim Aktionstraining, dem Schritt zwei auf dem Weg zum „Klima-Kleber“, sei es zunächst um Gewaltlosigkeit gegangen. Im Fall der „Letzten Generation“ heißt das: nicht zu viel sagen, sich nicht wehren, nicht zurückbrüllen, nicht schlagen. „Es war den Moderatoren extrem wichtig, dass alle das verstanden hatten“, sagt Nimmerfroh. „Denn die Bewegung definiert sich als die Guten und sie nutzt Gewaltlosigkeit, um sich von Polizei, Justiz und Politik abzugrenzen. Die denken die Medienwirkung direkt schon mit.“ Deshalb sei eine Gefängnisstrafe einer Geldstrafe oder einer Einstellung des Verfahrens in jedem Fall vorzuziehen.

Später seien die Klebeblockade und deren Folgen besprochen worden. „Es gab mehrere Imaginationsübungen und Rollenspiele, angefangen von der Straße bis zur Zelle“, sagt Nimmerfroh. „Danach mussten wir jeweils sofort erzählen, wie wir uns gefühlt haben - ein extrem wirksamer psychologischer Trick, denn das persönliche Erleben ist enorm überzeugend.“ Wenn Menschen dazu gebracht werden, weiter über das im Geist Erlebte zu sprechen, oder die gewünschte Denkhaltung in einem Rollenspiel vertieften, werde die Überzeugung noch einmal verstärkt. „Unser Gehirn denkt: Das habe ich jetzt so oft gehört, das muss stimmen.“

Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ nehmen Freiheitsentzug in Kauf

Mithilfe von psychologischer Mechanismen werde die Idee, Straßen zu blockieren und dafür ins Gefängnis zu kommen, für die bereits eingeschworene Gruppe zur neuen Norm. „Es findet sogar noch eine Umkehrung statt: Es heißt, niemand, der sich nicht verhaften lassen will, soll deshalb diskriminiert werden. Die Entscheidungsfreiheit der Gruppenmitglieder wird dadurch enorm eingeschränkt.“

Zumal die individuellen Risiken, die eine solche Aktion mit sich bringe, systematisch heruntergespielt würden. „Es klingt, als ob man zusammen einen Outdoor-Trip macht.“ Strafen unter 90 Tagessätzen stehen nicht im polizeilichen Führungszeugnis, im Vortragsskript wird die Haft beschrieben als der Teil der Aktion, an dem sich „ein Gefühl der Stärke und der Selbstwirksamkeit“ einstellt - und falls nicht, empfiehlt das Handout zum Training, zur Ablenkung ein Buch einzupacken. Weitere Vorschläge: singen, tanzen, summen, Gedichte ausdenken. Nach der Entlassung werde man draußen „herzlich empfangen“.

„Die Isolation während eines Gefängnisaufenthalts geht aber an keinem einfach so vorbei“, sagt Psychologin Nimmerfroh. „Sonst wäre es keine Strafe. Und Freiheitsentzug die härteste Strafe, die wir in Deutschland haben. Da helfen kein Gedicht oder ein herzlicher Empfang.“

Frankfurt: Nimmerfroh kritisiert die psychologischen Tricks der Klimaaktivisten

Auch mögliche negative Folgen der Strafverfahren fürs Berufsleben würden verschwiegen. „Wenn jemand von denen zum Beispiel später im sozialen Bereich arbeiten will, kann es mit einem Eintrag im Führungszeugnis im öffentlichen Dienst schwierig werden.“ Von den Folgen für Ausländer ganz zu schweigen.

Die Frankfurter Psychologin Maria-Christina Nimmerfroh.
Die Frankfurter Psychologin Maria-Christina Nimmerfroh. © privat

Unabhängig von der Frage, wie sinnvoll diese Art des Protestes und ziviler Ungehorsam im Generellen seien, hält die Bockenheimerin, die der FDP nahesteht, die „Letzte Generation“ deshalb insbesondere für die eigenen Mitglieder für „gefährlich“: „Wenn ich Menschen zum Handeln motiviere, braucht es Wahlfreiheit. Sie müssen es tun oder lassen können.“ Natürlich werde niemand gezwungen, sich der Gruppe anzuschließen.

„Aber wenn man mal drin ist, werden Blockade und Knast durch psychologische Tricks als erstrebenswert dargestellt. Ohne sie vollständig über die Risiken aufzuklären, werden Interessenten gezielt darauf vorbereitet, im Namen der Organisation Straftaten zu begehen. Ich halte dieses Vorgehen für ethisch fragwürdig.“ Die „Letzte Generation“ ließ eine Presseanfrage unbeantwortet. Erst im Dezember besetzten die Klimaaktivisten einen Hörsaal in der Goethe-Uni in Frankfurt.

Psychologin aus Frankfurt: Die „Letzte Generation“ als kriminell abzustempeln, bestärke ihre Gemeinschaft

Die Klimaschutzgruppe als kriminell abzustempeln, hält Nimmerfroh, ebenfalls aus psychologischen Gründen, für falsch: „Das stärkt deren Gemeinschaft eher, statt sie aufzubrechen.“ Sinnvoller sei es, beispielsweise darauf hinzuweisen, dass Klebeblockaden noch mehr Staus und Abgase verursachen und so die Argumentationskette zu unterbrechen. „Außerdem muss man den Mitgliedern deutlich machen, dass sie sich mit solchen Aktionen möglicherweise ihr Leben versauen.“

Nimmerfroh selbst wird ihre Erkenntnisse nun in ihren Lehrveranstaltungen vermitteln - immerhin gehören Studenten zur primären Zielgruppe. (Sarah Bernhard)

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