Interview mit Sozialforscher Lukas Sattlegger: „Lieferkultur wird noch mehr Müll schaffen“

Es stinkt bis zum Himmel, das schreiben uns auch viele Leser. Aber wie dreckig ist Frankfurt wirklich? Lukas Sattlegger vom Institut für sozial-ökologische Forschung kann’s beurteilen. Der Verpackungsmüll ist sein Thema; ihn in Frankfurt zu verringern, eine seiner Aufgaben. Sattlegger sitzt dafür in einem Arbeitskreis des Ernährungsrats Frankfurt. Redakteur Mark Obert sprach mit dem Österreicher, der seit zwei Jahren am Main lebt.
Herr Sattlegger, worin sind Sie ein Müllsünder?
LUKAS SATTLEGGER: Ich produziere wenig Müll. Ich kaufe viele regionale Produkte, beziehe meine Ware über eine Kaufgemeinschaft bei lokalen Bauern. Gerade bei Lebensmitteln achte ich darauf, Abfall und Müll zu vermeiden. Ich bin so erzogen worden. Gut, manchmal denke ich auch: Jetzt darfst du dir mal etwas mit Plastikverpackung kaufen.
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Haben Sie schon mal etwas achtlos weggeworfen?
SATTLEGGER: Nein. Ich bin der Typ, der Müll einsammelt, wenn ich beim Wandern etwas sehe, was einer hat liegen lassen. Aber das sieht man in den Bergen selten. Das Naturbewusstsein ist da ausgeprägter, weil man allein unterwegs ist. Schmeißt da jemand eine leere Packung ins Grüne, ist er stärker mit seinem Verhalten konfrontiert als in der Stadt.
Warum sind wir in der Stadt achtloser?
SATTLEGGER: Das Phänomen ist in der Sozialforschung gut beschrieben. Der Einzelne geht in der Masse unter. Andere schmeißen ihre Zigarettenkippen auch auf die Wiese, werfen ihre Pappbecher auch auf die Straße oder lassen ihre Hunde auf den Bürgersteig machen. Also macht man’s auch. Es sieht ja keiner, so das Denken vieler – und selbst wenn, kommt ja sowieso jemand, der den Müll beseitigt.
Bleibt die Frage, warum manche trotzdem sauberer sind als andere?
SATTLEGGER: Die Erziehung spielt eine Rolle. Was die Familie vorlebt, schärft mein Umweltbewusstsein. Dass das in der Stadt trotzdem tendenziell abnimmt, merke ich ja an mir selbst: Hier käme ich nie auf die Idee, einen Kaffeebecher aufzuheben, nicht mal im Niddapark.
Vermüllung wird gerne bildungsfernen Schichten angelastet. Zurecht?
SATTLEGGER: So einfach ist das nicht. Wir wissen, dass der Umgang mit Müll auch etwas mit unserer kulturellen Sozialisation zu tun hat. Bekannt ist auch, dass sich Probleme mit Müll dort verschärfen, wo die Aufenthaltsqualität ohnehin schon gering ist. Wenn der Park verwahrlost aussieht, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch die Vermüllung zunimmt.
Unsere Leser beklagen, dass es in Frankfurt schlimmer wird: die Grillabfälle in den Parks, Hundekot, Verpackungsmüll. Wie nehmen Sie das wahr?
SATTLEGGER: Ich habe vorher in Wien und München gelebt. Das Erste, was mir auffiel, als ich nach Frankfurt kam, waren die Sperrmüllberge überall. So etwas kannte ich nicht. Aber ich sehe darin auch etwas Positives…

Was denn?
SATTLEGGER: Man kann das wiederverwerten. Viele entdecken da noch brauchbare Möbel für sich. Das ist ja das Grundprinzip jeder Abfallvermeidung.
Ansonsten ist Frankfurt so sauber wie Wien?
SATTLEGGER: Das kommt auf den Stadtteil an, aber Probleme wie Kaffeebecher oder Hundekot sind in vielen Großstädten anzutreffen.
Solche Rücksichtslosigkeiten seien Ausdruck schwindenden Bürgersinns, diagnostizieren Soziologen. Sehen Sie das auch so?
SATTLEGGER: Beim Hundekot oder Zigarettenkippen auf den Straßen könnte man das sagen. Was den Plastikmüll betrifft, würde ich dem einzelnen Bürger nicht die alleinige Verantwortung zuschieben. Das Problem ist komplexer, es ist das System aus Hersteller, Handel und Verbraucher. Lösungen müssen also an vielen Stellen gefunden werden.
Man kann es trotzdem lassen, seine Fastfoodschale in den Straßengraben zu werfen, oder?
SATTLEGGER: Natürlich. Aber dennoch hängen die drängenden großen Probleme nicht nur mit dem achtloser werdenden Verhalten Einzelner zusammen. Man liest ständig von den Plastikvermüllung der Meere und ähnlichem. Und das, obwohl man zu Hause seinen Müll sorgfältig trennt. Man meint also, dass das eigene Verhalten kaum etwas bewirkt. Zudem hat die breite Masse der Verbraucher bei vielen Waren allein aus finanziellen Gründen gar nicht wirklich die Wahl: Plastik oder nicht. Wie gesagt, wir müssen das gesamte System betrachten.
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Oder einfach mehr Abfalleimer aufstellen? Oberbürgermeister Feldmann hat dafür eine Initiative „1000 Mülleimer“ gestartet.
SATTLEGGER: In der Innenstadt oder rund um Bahnhöfe mag das nötig sein. Da sind viele Menschen unterwegs, die sich nicht mehr die Zeit nehmen, in Ruhe einen Kaffee zu trinken, sondern sich schnell einen mitnehmen. Ein anderes Beispiel: Hätten alle Firmen gute Kantinen, würde mancherorts sicherlich weniger Müll herumfliegen.
Weil die Leute dann nicht mehr zum Thai um die Ecke rennen?
SATTLEGGER: Zum Thailänder, zum Bäcker, wohin auch immer. Wenn in einer Kantine mit frischen Waren gut gekocht wird zu angemessenen Preisen, würden viele Mitarbeiter noch häufiger in der Kantine essen. Aber auch hier gilt: Den einen Grund gibt es nicht.
Auch vor manchen Mietshäusern quillen die Mülltonnen über.
SATTLEGGER: Na ja, die Leute haben kaum mehr Zeit zum Kochen, viele Singles scheuen den Aufwand für sich allein, vielen fehlt die Kompetenz. Deshalb müsste Kochen mit frischen Lebensmitteln in den Schulen vermittelt werden, gerade weil das Vorbild der Eltern fehlt. Es wird ja selbst in immer mehr Familien oft online bestellt, da kommt das Abendessen eingepackt vor die Haustür. Die Lieferkultur wird noch schlimmere Müllberge schaffen.
Wie also ändert man Systeme?
SATTLEGGER: Nur langsam. Bewegungen wie „No Plastic“ wirken sehr begrenzt. Verpackungen sind keine Laune der Industrie, die man von heute auf morgen abstellen kann. Sie sind systemimmanent, auch weil sie mit den Bedürfnissen der Verbraucher zu tun haben.
Inwiefern?
SATTLEGGER: Ich habe dazu mal in einem normalen Supermarkt und in einem verpackungsfreien geforscht. Der normale Supermarkt kann die vom Kunden gewünschte Markenvielfalt in verschiedenen Preissegmenten ohne Verpackung gar nicht bereithalten.
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Warum nicht?
SATTLEGGER: Weil der Kunde die Marken unterscheiden will – auf einen Blick. Das gilt ja sogar für Bio-Produkte. Auch die sind eingeschweißt, zum Beispiel die Gurken, damit der Kunde das Bio-Label sieht. Wichtig ist das auch an der Kasse. Wenn die Biogurke und die gewöhnliche Gurke nicht zu unterscheiden sind, wie soll berechnet werden? Die Produktinformationen, die der Verbraucherschutz fordert: Wo sollen die aufgedruckt werden?
Info: Es geht darum, etwas zu bewirken
Der Umweltsoziologe Lukas Sattlegger, Jahrgang 1988, arbeitet seit zwei Jahren am ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung in Bockenheim. Dessen Ziel ist es, wissenschaftliche Entscheidungsgrundlagen und zukunftsfähige Konzepte für Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft zu entwickeln. Sattlegger sagt’s einfacher: „Es geht darum, etwas zu bewirken.“
In Wien hat er Soziologie sowie Human- und Sozialökologie studiert. Er ist Doktorand in der Nachwuchsforschungsgruppe „PlastX“ – einem Förderprogramm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Das Team aus Sozial- und Naturwissenschaftlern untersucht die gesellschaftliche Rolle von Plastik und die Auswirkungen auf die Umwelt. Es geht um Müll – und um zwei einfache Fragen mit komplexen Antworten: Wie viel Plastik brauchen wir? Auf wie viel Plastik können wir verzichten?
Worauf könnte man ganz einfach verzichten?
SATTLEGGER: Würde es mehr regionale Versorgungskreisläufe und dazugehörige Mehrwegsysteme geben, wäre schon viel erreicht. Das gilt etwa für Getränke: Brauchen wir wirklich Mineralwasser aus anderen Ländern? Ein anderes Beispiel: Toilettenpapier wird mehrfach foliert, damit Transport und Logistik effizienter funktionieren; auch hier gibt es Potenzial. Viele Süßigkeiten müssen nicht doppelt verpackt sein. Und es gibt Waren, die nur deshalb aufwendig verpackt werden, damit sie hochwertig erscheinen.
Wie die Aluminiumkapseln von Nespresso, die in der umweltbewussten Bildungsschicht massenweise in die Abfalleimer wandern.
SATTLEGGER: Die sind ein gutes Beispiel für einen häufigen Widerspruch. Im ISOE, dem Institut für sozial-ökologische Forschung, an dem ich arbeite, nehmen wir ja wahr, dass in der Industrie und in der Politik das Bewusstsein dafür wächst, für komplexe Probleme Lösungen zu finden. Kritische Verbraucher fordern diese Lösungen vehement – und verursachen dabei selbst unnötigen Müll wie diese leeren Espressokapseln. Auf dieses Statussymbol wollen sie eben nicht verzichten. Das zeigt, wie komplex alles ist.
Zurück zum Stadtmüll. Was kann Frankfurt tun?
SATTLEGGER: Wir haben mit der Stadt, dem Ernährungsrat und Gastronomen einen Arbeitskreis gegründet, in dem wir über Alternativen sprechen. Zum Beispiel für Kaffeeplastikbecher. Ein funktionierendes und verbreitetes Mehrwegbechersystem mit Pfand wäre eine Möglichkeit. Oder Anreize, die dafür sorgen, den eigenen Becher mitzunehmen.
Wie beim Glühweinbecher auf dem Weihnachtsmarkt.
SATTLEGGER: Das ist das Prinzip. Das wäre ein Anfang.
Gibt es schon Städte, die das machen?
SATTLEGGER: Es gibt einige Projekte und Initiativen, auch in Frankfurt. Aber schwierig ist es, solche Initiativen aus der Öko-Nische in die breite Masse zu bringen, daran arbeiten wir.
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Was halten Sie von schmerzhaften Bußgeldern für Abfallsünder wie in Singapur?
SATTLEGGER: Wenn der Personal- und Verwaltungsaufwand nicht zu groß ist, wäre das eine Möglichkeit.
Man könnte darin Geld investieren und dafür auf wirkungslose Kampagnen verzichten.
SATTLEGGER: Ich finde Plakat-Kampagnen und ähnliches nicht schlecht, weil sie Phänomene als Probleme erkennbar machen. Was Bußgelder betrifft, bin ich vorsichtig, weil es nicht zu einer Kontroll- und Verbotsgesellschaft ausarten darf. So lange der Müll nicht ausufert, muss man in einer Großstadt auch Toleranzbereiche haben.
Nun hat jeder andere Toleranzgrenzen. Welche Müllsünder bringen Sie an Ihre?
SATTLEGGER: Na ja, wenn ich im Park auf der Wiese liege und überall Zigarettenstummel sehe, regt mich das schon sehr auf.