„Müssen lernen, mit antisemitischer Kunst umzugehen“

Meron Mendel von der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank über unsinnige Verbote und die Gereiztheit in der Israel-Debatte
Die Diskussion um die Konzerte des englischen Rockmusiker Roger Waters wird heftiger und soll unter Berücksichtigung aller Kriterien auch intensiv geführt werden. Höchst problematisch ist, dass die Kriterien einmal mehr durcheinander geraten, weil es um Israel geht. Redakteur Mark Obert sprach mit dem Pädagogen Meron Mendel über nötige Trennlinien nicht nur im Fall Waters.
Herr Mendel, Frankfurts Lokalpolitiker der großen Parteien sind sich einig: Der Rockmusiker Roger Waters darf nicht in der Festhalle auftreten. Richtig so?
Nein. Ich glaube fest an die Kraft der Zivilgesellschaft. Es ist nicht mein Wunsch, dass der Staat alle gesellschaftlichen Konflikte löst. Es ist Aufgabe von jedem von uns, sich einzumischen.
Die Gesellschaft diskutiert ja über Waters und die pro-palästinensische BDS-Bewegung hinter ihm. Wie stehen Sie zu ihm?
Ich finde ihn absolut unsympathisch - nicht nur wegen seiner israelfeindlichen und antisemitischen Positionen, sondern auch, weil er sich als Freund von Putins Politik äußert oder Taiwan die Existenzberechtigung abspricht. Das alles stößt mich ab. Aber der Umgang damit kann nicht darin bestehen, dass man an die Stadt Frankfurt appelliert, seine Auftritte zu verbieten.
Wie sollten wir als Zivilgesellschaft die Zumutung verhindern, dass ein Schweine-Ballon mit Davidstern durch die Festhalle fliegt?
Soweit ich weiß, lässt Waters diesen Ballon nicht mehr fliegen. Grundsätzlich aber muss immer die rechtliche Frage geklärt werden. Aus meiner Sicht als Nicht-Jurist ist mit dem Ballon der Straftatbestand der Volksverhetzung gegeben, aber das müsste die Staatsanwaltschaft prüfen. Bis dahin kann die Zivilgesellschaft protestieren. Ein jeder kann dazu beitragen, das Geschäftsmodell des Musikers und des Veranstalters ins Wanken zu bringen. Einfach keine Tickets kaufen. Das sind stärkere Zeichen einer Stadt, als wenn ihre Politik einen Erlass ausspricht, der ohnehin keinen Bestand haben wird vor einem Verwaltungsgericht.
Sprechen wir darüber, wo die Tolerierung von Antisemitismus beginnt. Konzertagenturen wissen doch, wen sie da als Partner haben: Eine Pink-Floyd-Legende, die Hallen ausverkauft. Da sieht man das eben nicht so eng mit dem Antisemitismus.
Umso wichtiger ist es, dass wir in solchen Fällen öffentliche Debatten führen und Gespräche im Familien- und Bekanntenkreis, um Überzeugungsarbeit zu leisten.
Viele Leute finden prominente Antisemiten gerade attraktiv, weil sie antijüdische Ressentiments schüren. Endlich sagt mal einer, wie es ist, heißt es dann ja oft.
Das ist eine Gefahr, die wir als liberale Demokratie aushalten müssen. Der Verfassungsrechtler Christoph Möllers hat unlängst ein Gutachten vorgelegt ...
... zur Affäre um die antisemitischen Kunstwerke auf der Documenta ...
Genau. Er sagt, antisemitische und rassistische Äußerungen und sonstiges menschenfeindliches Gedankengut seien durch die Kunstfreiheit gedeckt. Das mag ein Skandal sein, aber es ist nun mal ein der liberalen Demokratie innewohnender Skandal. Man kann es nicht einfach verbieten. Die Grenze ist die Volksverhetzung. Im Übrigen müssen wir lernen, mit antisemitischer Kunst umzugehen. Das würde aber nicht gehen, wenn man einen Deckel draufmacht und zuhält.
Als Sozialwissenschaftler sehen Sie in der Sichtbarmachung einen Nutzen?
Es gibt Momente, wo wir unser Gesicht im Spiegel anschauen müssen - ungeschminkt. Aber ich bin der Überzeugung, dass die Kräfte gegen Hass stärker sind als die Kräfte, die Hass verbreiten.
In Ihrem neuen Buch „Über Israel reden“ plädieren Sie für etwas, was man intellektuelle Redlichkeit nennen könnte, weil die Debatte über den Nahostkonflikt an mangelnder Trennschärfe leidet, mancher Eklat sogar kalkuliert erscheint. Helfen Sie uns: Wo ist die Grenze zwischen akzeptabler Kritik an der israelischen Siedlungspolitik und Antisemitismus?
Wenn jemand Israel die Existenzberechtigung abspricht, ist das für mich antisemitisch. Wenn jemand das Unrecht, das Israel an Palästinensern in den besetzten Gebieten verübt, mit der Shoah gleichsetzt, ist das antisemitisch, weil es die Shoah verharmlost und das Schicksal ihrer Opfer herabwürdigt. Wenn Kritiker Juden als solche diffamieren, ist das antisemitisch. Wenn eine Bewegung wie die BDS zum Boykott jüdisch-israelischer Intellektueller und Künstler aufruft, kann das antisemitisch sein.
Die Ächtung eines Kollektivfeindes ist es allemal.
Und die verhindert jeden Dialog. Das ist auch ein Schlag ins Gesicht all jener um Frieden und Gerechtigkeit bemühten Israelis, die mit palästinensischen Friedensaktivisten an der Grenze demonstrieren. Ich bin davon überzeugt, dass die BDS andererseits Benjamin Netanjahu und seinesgleichen in die Karten spielt und dazu beiträgt, dass die rechten und zum Teil sogar rassistischen Kräfte in Israel gerade solchen Auftrieb haben.
Und damit die Hamas und andere radikale Kräfte auf palästinensischer Seite.
Ja, die Lage ist besorgniserregend, es droht eine weitere Spirale der Eskalation, der Gewalt. Und die israelische Demokratie ist in Gefahr.
In Frankfurt gab es auch Diskussionen darüber, ob die ABG Holding der BDS Räume vermieten darf oder nicht ...
Das ist lächerlich. Man sollte an sie Räume vermieten. Wir dürfen nicht denselben Fehler machen, den wir der BDS vorwerfen: grob verallgemeinern. Die BDS mag anziehend auf antisemitische Menschen wirken, aber ihre politischen Positionen sind nicht per se antisemitisch, nicht jeder BDS-Anhänger ist Antisemit.
Sie schreiben, dass Sie Produkte aus den Siedlungsgebieten boykottieren.
Schon seit langer Zeit tun viele israelische Gegner der Siedlungspolitik das, ich auch. Boykott ist ein legitimes politisches Mittel.
Wenn Israel-Kritiker zum Wirtschaftsboykott aufrufen, fühlen sich Mahner an die NS-Zeit erinnert: „Kauft nicht beim Juden!“
Diese Vergleiche bringen uns nicht weiter. Andere wiederum setzen Israel mit dem Apartheidstaat Südafrika gleich. Auch diese Begriffswahl ist völlig unangemessen. Es stimmt, dass Israel seit über 50 Jahren eine Besatzungsmacht ist. Das Hauptproblem ist die Besatzung. Rassismus wie damals in Südafrika ist zwar in Teilen der Gesellschaft vorhanden, beispielsweise unter Siedlern, er ist aber noch keine Staatsideologie. Der Begriff Apartheid dient also nicht der Versachlichung der Debatte, sondern trägt zu ihrer Emotionalisierung bei. Erschreckend an all dem finde ich, dass eine eigentlich so kleine Bewegung wie die BDS so viel Einfluss hat.
Sie haben das auch schon erlebt. Der Antisemitismusbeauftragte des Landes Hessen, Frankfurts OB-Kandidat Uwe Becker, verlangte von Ihnen, den Journalisten Daniel Bax auszuladen.
Herrn Becker hat gestört, dass Bax sich in einem Artikel für einen differenzierten Umgang mit der BDS ausgesprochen hatte und forderte mich auf, ihn auszuladen. Ich habe die Forderung abgelehnt, auch wenn ich die Positionen von Daniel Bax selbst nicht teile. Wir sind wieder am Ausgangspunkt unseres Gesprächs: Es kann nicht sein, dass der Staat Redeverbote verhängt.
Über Israel zu diskutieren, erscheint vielen Menschen als heikel. Sie fürchten die moralische Ächtung. Sehen Sie die Gefahr, dass das als Sprechverbot verstanden wird und das antisemitische Stereotyp von der jüdischen Sonderrolle, von der Macht der Juden schürt?
Erst mal vorweg: Es besteht kein Tabu, Israel in Deutschland zu kritisieren. Diejenigen, die von einem solchen Tabu schwadronieren, wollen in der Regel ihren antisemitischen Vorstellungen freien Lauf lassen. So ging es beispielsweise dem FDP-Politiker Jürgen Möllemann oder dem Schriftsteller Günter Grass. Sie haben die Vorstellung, es gäbe ein Sprechverbot, bedient, um Juden als Täter und Strippenzieher darzustellen. Gleichzeitig sehen wir, dass der Antisemitismusvorwurf instrumentalisiert wird, beispielsweise durch die aktuelle israelische Regierung, mit der Absicht, Kritik an ihrer Politik im Keim zu ersticken. Ich glaube, dass wir uns mehr darin üben müssen, diese Formen der Instrumentalisierung zu entlarven und abzulehnen.
Muss man nicht Rücksicht darauf nehmen, wenn wie bei Waters oder der Documenta jüdische Gemeinden sagen, diese Kränkungen und Diffamierungen seien Juden nicht zuzumuten?
Ich würde die Frage abstrahieren. Wenn Menschen einer Minderheit sagen, dass ihre Gefühle verletzt sind, wohnen zwei Seelen in meiner Brust. Es ist zweifellos ein wichtiges Ziel, Minderheiten vor Verletzungen zu schützen. Andererseits darf die Debatte nicht so subjektiv geführt werden, dass es nur noch um Gefühle geht. Am Ende brauchen wir feste Kriterien, alles andere wäre Willkür. Und weil Sie gerade jüdische Befindlichkeiten ansprechen: Ein grundlegender Irrtum hierzulande besteht ja auch darin, dass es zu allen möglichen Themen immer nur eine jüdische Position, ein jüdisches Empfinden gäbe. Wie jede Minderheit haben Juden untereinander unterschiedliche Wahrnehmungen, was sie als antisemitisch empfinden.
Herr Mendel, Sie unterrichten an der University of Applied Sciences in Frankfurt. In jungen akademischen Milieus nimmt die Gereiztheit in politischen Debatten doch eher zu, oder?
Doch. Die jungen Leute informieren sich heute fast ausschließlich in sozialen Medien und da in ihren eigenen Blasen. Die konfrontieren sich kaum noch mit den Argumenten der anderen Seite, im Gegenteil: Die schicken unentwegt irgendwelche Trigger-Warnungen umher, weil sie sich von den Ansichten anderer verletzt, gekränkt, diskriminiert fühlen und Argumente gegen das eigene Weltbild schon deshalb ablehnen und bekämpfen. Ein Problem besteht darin, dass jungen Menschen heute die gemeinsamen Referenzpunkte fehlen. Die schauen keine Tagesschau, die schauen keine politischen Diskussionen im Fernsehen an. In der Bildungsstätte Anne Frank versuchen wir, solche Weltbilder zu irritieren, um Denkprozesse in Gang zu setzen, um sich mit anderen Sichtweisen auseinanderzusetzen. Das ist ein langwieriger Prozess.
Ihre Bildungsstätte hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Gute und Kluge in junge Menschen zu bekommen. Wie viel geht der Erinnerungskultur verloren, wenn es die Holocaust-Überlebenden nicht mehr gibt, die über die NS-Zeit aufklären?
Diese Frage wird oft gestellt, und ich halte sie für verkürzt. Dieses Land ist in erster Linie das Land der Täter und nicht der Opfer. Es wird bald auch der letzte Täter, der letzte damals Indoktrinierte gestorben sein. Dann gibt es auch die deutschen Großväter nicht mehr, die am Esstisch den Enkelkindern erzählen, dass das alles ganz toll war damals. Darin liegt auch eine Chance.