Nachhaltigkeitsexpertin: "Die Leute müssen die Veränderung selbst wollen"

Alexandra von Winning aus Bornheim über Nachhaltigkeit in Frankfurt und darüber, was jeder Einzelne tun kann.
Noch bis Freitag beraten Politiker aus aller Welt im schottischen Glasgow über die Klimakrise. Doch Klimaschutz fängt vor der eigenen Haustür an. Eine, die sich damit auskennt, ist die Frankfurterin Alexandra von Winning: Sie ist einerseits Mitinhaberin des gemeinnützigen Unternehmens "Lust auf besser leben", das etwa den Mehrweg-Pfandbecher MainBecher auf den Weg gebracht hat. Andererseits ist sie Vorsitzende des Nachhaltigkeits-Ausschusses der Frankfurter Industrie- und Handelskammer (IHK).
Frau von Winning, wie steht es um die Nachhaltigkeit in Frankfurt?
Ich würde sagen, es gibt noch wahnsinnig viel zu tun. Aber ich beobachte auch immer mehr inspirierende Initiativen von Bürgern und Unternehmen, die sich auf den Weg machen, und eine Politik, die die richtigen Zeichen setzt. Es besteht also Hoffnung.
Gibt es denn einen Königsweg zu nachhaltigem Leben und Wirtschaften?
Jeder kann einen wichtigen Beitrag leisten, aber jeder muss sich seinen eigenen Weg durch Prioritäten und Rahmenbedingungen schlagen, daher gibt es keine Blaupause. Die Aufgabe besteht darin, alle Menschen da abzuholen, wo sie sind, und sie zu befähigen, selbst in die richtige Richtung zu gehen.
Mal angenommen, mir gehört ein mittelständisches Unternehmen. Welche Schritte sind da möglich?
Wir tun immer so, als ob Unternehmen künstliche Gebilde wären, die in ihren Entscheidungen beschränkt sind. Aber sie bestehen ja auch aus Menschen, die man motivieren kann und die dann Lust haben, etwas zu ändern. Und dann ist das Prinzip eigentlich ganz einfach: Man muss die wesentlichen negativen Auswirkungen des Unternehmens identifizieren, Lösungen dafür finden und den positiven Einfluss verstärken.
Frankfurter Hotel expandiert zum Bienenhotel
Ein Beispiel, bitte.
Ein mittelständischer Importeur von Fruchtsäften bezieht seine Rohstoffe aus fernen Ländern. Da sind die zwei wesentlichen Nachhaltigkeitsthemen die Logistik und die ökologischen und sozialen Rahmenbedingungen der Produzenten vor Ort. Wenn man das so klar identifiziert hat, sind den Verbesserungsmöglichkeiten keine Grenzen gesetzt. Und wenn das Team Lust auf Fortschritt hat, kann das eine tolle Aufwärtsspirale in Gang setzen, auch auf ökonomischer Ebene.
Oder wir haben ein Hotel in unserem Netzwerk für nachhaltiges Wirtschaften, das sich Gedanken gemacht hat, wie es mit seiner bedeutendsten Ressource, nämlich Fläche, einen positiven Beitrag leisten kann. Es hat sich schließlich im Sinne der Gastfreundschaft für ein Bienenhotel entschieden und die Fläche vor dem Hotel insektenfreundlich bepflanzt, Fläche entsiegelt und eine Photovoltaikanlage aufs Dach gebaut. Das trägt nicht nur zu Biodiversität und Klimaschutz bei, sondern macht gleichzeitig auch den Gästen ein Bildungsangebot. Außerdem achtet das Hotel in der Gastronomie auf Bioprodukte und regionale Küche und hat auf nachhaltige Reinigungsmittel umgestellt. Man muss nicht immer mit der Chemiekeule draufhauen.
Und was kann ich als kleiner Ladenbesitzer tun? Fehlt mir da nicht einfach das Geld für große Investitionen?
Es gibt im Netzwerk tatsächlich einen Modeladen, dessen Besitzerin sagt: Ich kann es mir nicht leisten, reine faire Mode anzubieten, weil ich sonst pleitegehen würde. Denn durch Biobaumwolle und faire Löhne steigen die Produktionskosten und damit die Preise. Und wenn die Konkurrenten da nicht mitmachen, und so ist das im Moment noch, kaufen die Leute eben eher dort. Aber die Modeladenbesitzerin nimmt jetzt immer mehr fair produzierte Marken dazu, um darüber mit den Kunden ins Gespräch zu kommen. Es gibt viel, das man umsetzen kann, ohne dass es große Kosten verursacht. Das Wichtigste ist, dass man will: Wer will, findet Wege, wer nicht will, findet Gründe. Und die Leute wollen auch. Manchmal dauert es dann eben etwas.
"Heute sehen wir, wie viele Sklaven fürs T-Shirt gearbeitet haben"
Weil die Gesellschaft noch nicht bereit ist für nachhaltigen Konsum?
Teils, teils. Im Moment gibt es da viel Bewegung, was vor ein paar Jahren noch total out war, wird jetzt hipper. In anderen Bereichen realisieren die Menschen die katastrophalen Folgen ihrer Entscheidungen jetzt erst richtig, weil die Digitalisierung zu viel mehr Transparenz geführt hat. Die Konsumenten sehen, dass das, was sie kaufen, Auswirkungen auf Menschen am anderen Ende der Welt hat. Oder wie es unser Noch-Entwicklungsminister Gerd Müller ausgedrückt hat: Sie können sehen, wie viele Sklaven dafür gearbeitet haben. Manchmal hilft das nur kurzfristig, aber insgesamt steigt das Bewusstsein. Im Mainstream ist es aber noch nicht ganz angekommen.
Angenommen, mein Bewusstsein für Nachhaltigkeit ist jetzt neu erwacht und ich möchte mich umorientieren. Wie fange ich an?
Es ist sinnvoll, sich als Erstes den eigenen CO2-Fußabdruck anzuschauen. Dafür gibt es im Internet mittlerweile sehr gute Rechner. Die größten Potenziale liegen meist bei Strom und Wärme, Mobilität, Ernährung und sonstigem Konsum wie Technik oder Kleidung. Dann kann man schauen, welche Veränderungen bei einem selbst am sinn- und wirkungsvollsten sind. Es ist zum Beispiel ziemlich albern, wenn jemand mit drei Autos in der Garage auf Plastikstrohhalme verzichtet.
Kann beziehungsweise sollte ich als Einzelner noch mehr tun?
Einerseits darf die Politik die Verantwortung nicht komplett an die Bürger abgeben, sondern muss Rahmenbedingungen schaffen, die nachhaltige Entscheidungen zur ersten Wahl machen. Aber uns läuft die Zeit davon, und viele kleine Beiträge ergeben auch einen großen Beitrag. Aber es hilft auch nicht, wenn Nachhaltigkeit als Ärgernis wahrgenommen wird. Deshalb sollten Menschen vor allem das tun, worauf sie Lust haben. Zum Beispiel sich überlegen, mit welchem Ökostrom sie sich am meisten identifizieren. Oder wie sie ihren Garten insektenfreundlich gestalten. Oder ihr Kind so erziehen, dass es lieber Fahrrad fährt, als mit dem Auto zur Schule gebracht zu werden. Das Wichtigste ist, dass die Lösungen die eigenen Interessen berücksichtigen. Die Leute müssen die Veränderung selbst wollen, sonst bekommen wir die Nachhaltigkeitskultur nicht hin.
Frankfurter Kleinstunternehmen finden nicht genug Gehör
Was kann die Politik beitragen?
Es gibt tausend Baustellen von der Bildungspolitik über die Energie- zur Mobilitätswende. Mir persönlich wäre wichtig, dass sie Klein- und Kleinstunternehmen mehr Gehör schenkt. Sie machen 95 bis 98 Prozent der Wirtschaft aus, aber dadurch, dass sie nirgends zusammengefasst sind, schaut die Wirtschaftspolitik nicht auf sie. Und auch bei Umweltprojekten und gemeinnützigen Projekten werden sie nicht gefördert, weil sie ja "die Wirtschaft" sind, und das selbst machen sollen. Dabei ließe sich eine so große Wirkung erzielen, wenn man sie alle erreichen würde! Die meisten von ihnen haben viel Willen und Engagement, aber eben nicht die Ressourcen und die Expertise. Da bräuchte es eine sinnvolle Förderung.
Wie könnte die aussehen?
Wir als Sprachrohr für engagierte Klein- und Kleinstunternehmen haben dem Land Hessen ein Förderprogramm für "nachhaltiges Wirtschaften" vorgeschlagen, das kleine Unternehmen dabei unterstützen soll, wesentliche Nachhaltigkeitsthemen zu identifizieren und die Umsetzung einer Roadmap zu begleiten. Mit der Initiative für nachhaltiges Wirtschaften macht das Land nun die ersten Schritte.
Das klingt ja schön und gut. Aber ist Nachhaltigkeit nicht eigentlich ein globales Thema, gerade mit Blick auf Handelsketten?
Ja. Natürlich müssen auch nationale und globale Lösungen gefunden werden, etwa Branchenvereinbarungen, weil einzelnen Unternehmen die Marktmacht fehlt. Am Ende muss das gesamte Standardprodukt nachhaltig sein, auch was die Transparenz angeht. Es darf nicht mehr sein, dass das Etikett "nachhaltige Baumwolle" bedeutet, dass die Bauern eine Anbau-Schulung bekommen haben, aber gar keine Biobaumwolle verarbeitet wurde. Die Ausweitung des Lieferkettengesetzes auf die europäische Ebene geht da zumindest in die richtige Richtung.
Wir glauben aber auch, dass der dafür notwendige Kulturwandel hier beginnen muss: Gerade kleine Geschäfte, in denen man ständig einkaufen geht, sind das Scharnier zur Gesellschaft. Wenn wir diese kleinen Geschäfte empowern, selbst nachhaltig zu wirtschaften und das an die Kunden weiterzugeben, kann der gesellschaftliche Wandel gelingen.
Zum Beispiel mit den von "Lust auf besser leben" entwickelten Taschenstationen?
Genau. Die haben wir uns überlegt, als Plastiktüten verboten wurden. Man kann Stofftaschen, die man nicht mehr braucht, hineinlegen, und jemand anders kann sie dann benutzen. Wenn das Personal an der Kasse von dem Konzept begeistert ist, dann ist die Taschenstation ein Renner. Wir haben vor kurzem einen Relaunch gemacht und dabei die Lernerfahrungen der Ladenbesitzer berücksichtigt. Die Taschenstationen stehen jetzt und haben Gummischlaufen für die Taschen, Rollen zum nachts Reinschieben, und ein Dach gegen den Regen.
Wieder eine Investition.
Nein, sie sind kostenlos, da wir sie mit Hilfe der Deutschen Postcode Lotterie und der FES entwickeln und produzieren konnten. Ein paar sind noch übrig. Wer eine möchte, kann sich gerne melden.
Zur Person
Dr. Alexandra von Winning, die BWL studiert und in VWL promoviert hat, kam mit 18 Jahren nach Deutschland. Geboren ist die 43-Jährige in Venezuela, ihr Abi hat sie in Indonesien gemacht. Seit 2014 ist sie als Beraterin selbstständig, 2018 schloss sie sich mit Marlene Haas für die "Lust auf besser leben gGmbH" zusammen, ein Unternehmen, das im gemeinnützigen Bereich verschiedene Projekte zum Thema Nachhaltigkeit verfolgt. Als Agentur verdienen die beiden ihr Geld mit Nachhaltigkeitsberatung - um es dann in die eigenen gemeinnützigen Aktivitäten zu reinvestieren. Von Winning ist Dozentin für Nachhaltigkeitsmanagement an der Goethe-Universität und an der Uni Lüneburg. Außerdem leitet sie den Ausschuss für Nachhaltigkeit der Industrie- und Handelskammer (IHK), der Unternehmer informiert und das Thema Nachhaltigkeit über die IHK in die Politik tragen will.