Nino Haratischwili wird neue Stadtschreiberin

In Bergen will sie am nächsten Roman arbeiten
Auf die erste Freude über die Wahl folgte „ein Schweißausbruch“, sagt Nino Haratischwili. Das Amt der Stadtschreiberin von Bergen, das man ihr bei einem Anruf antrug, wollte sie gerne antreten. Doch die 40 Jahre alte Wahl-Berlinerin machte sich Sorgen, wie sie das mit ihren zahlreichen anderen Verpflichtungen in Einklang bringen sollte. Herbst und Winter sind bei der auch als Theaterregisseurin engagierten Autorin bereits stark ausgebucht, und die ältere ihrer beiden Töchter wird an diesem Samstag eingeschult.
Dass sie die Anwesenheit in dem Haus „An der Oberpforte 4“, die neben einem Geldpreis von 20 000 Euro mit der Auszeichnung verbunden ist, anders als bei anderen Residenzen flexibel gestalten kann, sorgte für Erleichterung und kommt der Deutsch-Georgierin entgegen. Ab März, wenn auch in den Frankfurter Kammerspielen der erste Teil ihrer Trilogie über antike Königinnen, „Phädra, in Flammen“, anläuft, habe sie wieder mehr Zeit. Dann werde sie sich in ihre neue Bleibe in Bergen zurückziehen und an ihrem nächsten Romanprojekt arbeiten, verriet Haratischwili am Donnerstag bei ihrer Vorstellung vor Medienvertretern in der Ausstellungshalle 1a in Sachsenhausen.
Aus ihrem Buch wird eine Serie
Fünf Romane hat die Autorin neben zahlreichen Bühnenstücken bereits veröffentlicht. Schon das Debüt „Juja“ schaffte es 2010 auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. „Die Katze und der General“ war 2018 auch noch auf der Shortlist dabei. Die Filmrechte an Nummer drei, „Das achte Leben (Für Brilka)“, hat kürzlich eine britische Produktionsfirma erworben und will eine Serie daraus drehen. „Ich weiß, dass das passiert, aber ich kann mir das nicht vorstellen“, sagt die Schöpferin der Vorlage.
Viel gelobt sind die teilweise epischen Erzählungen der in der georgischen Hauptstadt Tiflis geborenen Schriftstellerin. Ihre Romane setzen sich oft mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts in ihrer Heimat auseinander. Sie sei „eine Erzählerin von Weltformat“, hieß es in der Begründung der Jury für den Stadtschreiberpreis.
Ein Tag nach Beginn des Ukrainekriegs
Haratischwilis bislang letzter Wälzer, „Das mangelnde Licht“, der einen Tag nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine erschien, erhielt dadurch erschreckende Aktualität und führte dazu, dass es bei der anschließenden Lesereise „immer um Politik ging“, wie sie erzählt. „Es gibt viele Parallelen zwischen Georgien und der Ukraine“, so Haratischwili. Aber sie könne nicht stellvertretend für die Ukrainer sprechen, das wäre „anmaßend“.
Um ihre Prosa zu entwickeln, präferiert es die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin, aus ihrem Alltag herauszugehen. An anderen Orten zu leben, an denen sie den eigenen biologischen Rhythmus wiederaufnehmen könne. Denn eigentlich sei sie „ein Nachtmensch“. Doch mit Kindern müsse man sich umstellen.
Bergen-Enkheim kennt die Autorin der Frankfurter Verlagsanstalt und des Verlags der Autoren noch nicht. Auf ihre Zeit in Bergen empfinde sie jedoch „Lust“. Sie werde sich dafür eignen, einen neuen Roman zu entwickeln. Dies erfordere mehr Kontinuität als ein Theaterstück, das sich einfacher nebenbei schreiben lasse, sagt sie.
Das Amt in der Großstadt am Main, das sie traditionsgemäß für ein Jahr innehaben wird, tritt Haratischwili offiziell beim Stadtschreiberfest an diesem Freitag (19 Uhr) auf dem Marktplatz an. Dass sie die Nummer 50 in einer langen Reihe bekannter Autoren ist, der diese besondere Ehre zuteil wird, und dass etwa ein Dutzend ehemaliger Stadtschreiber dabei sein werden, wenn sie ihre Antrittsrede hält, beeindruckt Haratischwili sichtlich. Dass sie am Nachmittag vor der Schlüsselübergabe selbst ein Schild mit ihrem Namen an das Stadtschreiberhaus schrauben muss, macht ihr nichts aus. „Das bekomme ich hin“, betonte Haratischwili zuversichtlich. Um sie ins Schwitzen zu bringen, bedarf es anderer Herausforderungen. Katja Sturm
Vier Romane von der neuen Stadtschreiberin:
Das achte Leben (Für Brilka)
Das Epos „Das achte Leben (Für Brilka)“ beginnt märchenhaft mit einem georgischen Schokoladenfabrikant und seiner magischen Heißen Schokolade, der alle verfallen, und verfolgt die Familiengeschichte durch sechs Generationen und die Zeit der Sowjetunion bis in die Gegenwart. Haratischwili lässt den Leser erleben, wie schüchterne kleine Jungen zu tyrannischen Familienoberhäuptern werden, wie Menschen im eingekesselten Leningrad ums Überleben kämpfen, wie das Sowjetsystem gewalttätige Männer hervorbringt und wie Geflüchtete im Exil versuchen Fuß zu fassen.
Mit einer geschickten Erzählweise gelingt es Nino Haratischwilis Roman, den Leser über 1280 Seiten hinweg zu fesseln. Allein die schiere Menge an Geschichten lässt das dicht erzählte Werk so umfassend werden. Das Schicksal der zumeist weiblichen Hauptfiguren kann den Leser mitunter tief berühren, wobei die Autorin in Szenen der Gewalteskalation ihre Leserschaft nicht schont. msr
Frankfurter Verlagsanstalt, 18 Euro, Taschenbuch/
ISBN 978-3548289274
Das mangelnde Licht
In den 90er Jahren, als die Sowjetunion zusammenbricht und Georgien im Abchasischen Krieg versinkt, übernehmen Banden und Kriminelle die Macht in der georgischen Hauptstadt Tiblissi (dt. Tiflis). Die Geschichte der Stadt im Chaos des Umbruchs erzählt Haratischwili in „Das mangelnde Licht“ auf 832 Seiten anhand der Freundschaft von vier jungen Mädchen, die in dieser Zeit gemeinsam aufwachsen. Sie erleben ihre erste Liebe, Sexualität und suchen ihren Platz in einer Welt, die fast nur Gewalt und Perspektivlosigkeit zu kennen scheint.
Haratischwili gelingt es dem Leser herzallerliebste Figuren nahe zu bringen und ihn mit Szenen der Gewalt zu erschüttern. Was die Stadt und das Leben der vier Freundinnen in Haratischwilis Roman wie nichts anderes prägt, ist, was man heute „toxische Männlichkeit“ nennt: Die zerstörerische Kraft männlichen Egos, die wegen vermeintlichen Ehrverletzungen ebenso wie durch unbeholfene Sexualität jederzeit gewalttätig eskalieren kann. msr
Frankfurter Verlagsanstalt, 34 Euro, Hardcover/ ISBN 9783627002930
Die Katze und der General
Irgendetwas ist in einem kleinen Dorf während des Ersten Tschetschenien-Kriegs (1994 bis 1996) vorgefallen. So viel erfährt der Leser von „Die Katze und der General“ sehr früh. Was in der Gegenwart aber eine junge, georgisch-stämmige Schauspielerin in Berlin, ein russischer Oligarch und ein Journalist damit zu tun haben, bleibt in Haratischwilis viertem Roman lange verborgen und wird erst nach und nach gelüftet.
Im Gegensatz zu ihren anderen Büchern blickt Nino Haratischwili in „Die Katze und der General“ aus der männlichen Perspektive auf den Krieg und thematisiert, was der Krieg mit den Soldaten macht und wie diese zu Tätern Gewordenen mit ihrer Schuld umgehen.
Auf der Lauer liegt der Leser von „Die Katze und der General“ und beäugt distanziert und skeptisch die Protagonisten des 768 Seiten langen Romans. Da so lange unklar bleibt, in welche Richtung sich die Geschichte entwickeln wird, will man keiner Figur so richtig trauen. msr
Ullstein Taschenbuch, 17,99 Euro/ Taschenbuch, ISBN 9783548066677
Mein sanfter Zwilling
Stella und Ivo lieben sich seit sie kleine Kinder waren und wie Geschwister aufwuchsen. Es ist eine verworrene, ungesunde Liebe, die beide zu zerfressen droht. Aber trotzdem scheinen die beiden nicht ohne einander zu können. Als Ivo nach Jahren der Abwesenheit zurückkehrt, stellt er Stellas Gefühls- und Familienleben erneut auf den Kopf. Doch Ivo verspricht, mit einem Plan die Wunden der Vergangenheit heilen zu können.
In „Mein sanfter Zwilling“, ihrem zweiten Roman, erzählt Nino Haratischwili, wie Stella und Ivo nach einem traumatischen Erlebnis ihren Weg zurück in ein geordnetes Seelenleben suchen. Der Weg dahin führt nur über eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Da lange verborgen bleibt, was genau bei dem charakterprägenden Schlüsselereignis vorgefallen ist, bleibt auch das Verhalten der Hauptfiguren streckenweise unverständlich. Noch größer ist das Fragezeichen beim Leser allerdings, wenn er die letzte der 384 Seiten langen gelesen hat. msr
Frankfurter Verlagsanstalt, 22 Euro, Taschenbuch/ ISBN 9783627001759