„No-Go-Areas“ in der Stadt: Wo Kippa tragen als gefährlich gilt

Auch in Frankfurt meiden Juden muslimisch geprägte Stadtteile. Und der neue Antisemitismus-Beauftragte sieht das Übel auch in der bürgerlichen Mitte wachsen.
Eine junge Familie zieht aus ihrem Frankfurter Stadtteil fort, weil sie beschimpft und bedroht wird. Irgendwer hatte mitbekommen, dass es sich um eine jüdische Familie handelt. Die Nachbarschaft erwies sich dann als ebenso antisemitisch wie die Nachbarschaft einer älteren Dame, die in der jüdischen Gemeinde keine Abendveranstaltungen mehr besucht, weil sie Angst davor hat, nach Anbruch der Dunkelheit unterwegs zu sein.
Solche Erfahrungsberichte hört Avichai Apel, Rabbiner der Frankfurter Jüdischen Gemeinde, neuerdings öfter, von „No-Go-Areas“ für Juden spricht er. Um welche Frankfurter Stadtteile es sich dabei handelt, will er öffentlich nicht sagen. Keine Frage aber: Dass Felix Semmelroth, Christdemokrat und lange Jahre Kulturdezernent Frankfurts, seit gestern als Antisemitismus-Beauftragter des Landes Hessen fungiert, begrüßt der Rabbiner. „Wir brauchen Erziehung und Aufklärung – für ein friedliches Miteinander.“
Frankfurt ist nicht Berlin, wo gewaltsame Übergriffe auf jüdische Mitbürger dramatisch zunehmen. Die Attacke gegen einen Rabbi unlängst in Offenbach stellt im Rhein-Main-Gebiet noch die unrühmliche Ausnahme dar. Offener Rechtsradikalismus, von dem deutschlandweit nach wie vor die mit Abstand meisten Anschläge auf Juden und Synagogen ausgehen (334 von 349 im ersten Halbjahr 2017), ist in Frankfurt und Umgebung vergleichsweise selten zu sehen.
Warnungen eines Vaters
Und doch wachsen auch in Frankfurt Sorge und Vorsicht. „Ich habe einen David-Stern als Anhänger, den trage ich nicht mehr offen“, sagt eine Frankfurterin. Alon Meyer, der Vorsitzende des jüdischen Sportvereins TuS Makkabi, berichtet seit geraumer Zeit in den Medien, dass antisemitische Beschimpfungen seiner Fußballer wieder zunähmen und lauter würden. In manchen Stadtteilen viel lauter als anderswo.
„Meinen Söhnen sage ich: Geht mit euren Makkabi-T-Shirts nicht nach Griesheim, nach Sossenheim oder in die Nordweststadt“, erzählt ein Vater. Ob er damit jene Stadtteile nennt, die Rabbiner Apel meint, wenn er von No-Go-Areas spricht? In diesen Stadtteilen leben überwiegend Muslime. Und dass sich der islamisch geprägte Antisemitismus verbreitet und häufiger aggressiv offenbart, wird vielerorts beklagt. Der Berliner Psychologe und Islam-Kenner Ahmad Mansour fordert unablässig, dass vor allen in Schulen mehr dagegen getan werden müsse.
So sieht das auch Saba-Nur Cheema. Die Leiterin der Abteilung Pädagogik und der Opfer-Beratung in der Anne-Frank-Bildungsstätte sagt, dass Lehrer geschult werden müssten, um auf alltäglichen Antisemitismus besser reagieren zu können und das Thema differenziert in den Unterricht integrieren zu können. Sie ist oft an Schulen unterwegs und begegnet dort immer wieder Klischees und Vorurteilen – auch bei Lehrern. „Antisemitismus gibt es auch, wenn keine Betroffenen dabei sind“, sagt sie. Ihr fällt auf: Der Hass steigt und zeigt sich unverhohlener, besonders in den sozialen Medien. Zu dieser Beobachtung passt, dass „Jude“ auf vielen Schulhöfen wieder als salonfähiges Schimpfwort dient. Wie stark solche Tendenzen in muslimischen Milieus befördert werden, ist nicht zu sagen. Es gibt dazu keine Studien. In einem sind sich Forscher aber einig: Der Antisemitismus wird radikaler – sei er nun islamisch geprägt, antiisraelisch links oder neonazistisch. Und er nimmt zu. In allen Gruppen.
„Schäbig und schamlos“
Felix Semmelroth sieht sich deshalb vor einem Kampf an allen Fronten. Auch an einer, die selten ins Visier der Debatte gerät: die bürgerliche Mitte, die gebildeten Schichten. „Man wird doch noch sagen dürfen...“ Mit diesem Satz gehe es meistens los, sagt der Antisemitismus-Beauftragte im Gespräch mit dieser Zeitung. Und meistens machten sich dann nach zwei Glas Rotwein Schamlosigkeit und Schäbigkeit breit.
„20 bis 25 Prozent der Menschen in unserer Gesellschaft sind latent antisemitisch eingestellt“, sagt Semmelroth. Jährliche Umfragen kommen teilweise auf noch höhere Werte. Der Beauftragte sagt: „Ich habe noch keine Idee, wie wir da ran kommen.“
Julian-Chaim Soussan, Rabbiner der Frankfurter Jüdischen Gemeinde, hat eine Theorie: Die Schutzmauer Shoa bröckelt langsam. So formuliert er es. Will heißen: Die Gesellschaft gebe sich aus Schuldgefühl antisemitisch. Sie sei es nicht aus Überzeugung. Und nun verschwinde das Schuldgefühl wegen der Shoa langsam. „In vielen Schulen ist sie kein Thema mehr.“
Persönlich, sagt er, mache er keine schlechten Erfahrungen. Wenn er durchs Westend gehe, werde er seiner Kippa wegen auch schon mal mit „Shalom“ begrüßt. Klar, das Westend sei eine Insel der Glückseligen. Hin und wieder aber denkt Rabbiner Soussan, man solle als Jude nicht ständig betonen, wie viel Angst der Antisemitismus einem bereite, in welche Stadtteile man sich nicht mehr traue. „Das ist für Antisemiten wie Futter.“