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"Autisten sind ja nicht beschränkt": Ein Netzwerk vermittelt Jobs für besondere Talente

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Von: Sarah Bernhard

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Daniel Tiedge (rechts unten) ist Autist. Damit Menschen wie er bessere Jobchancen haben, hat Rainer Eckert ein Unternehmensnetzwerk gegründet. Daniela Fuchs hilft ihm dabei.
Daniel Tiedge (rechts unten) ist Autist. Damit Menschen wie er bessere Jobchancen haben, hat Rainer Eckert ein Unternehmensnetzwerk gegründet. Daniela Fuchs hilft ihm dabei. © privat

Manche Behinderung bringt große Fähigkeiten mit sich. Für manche Jobs wären Autisten deshalb die Idealbesetzung. Rainer Eckert sorgt dafür, dass sie auch eingestellt werden

Frankfurt -Daniel Tiedge ist konsequent seinen Weg gegangen, hat seinen Bachelor in Geografie im Ausland erworben, ist laut anderen verlässlich, ausdauernd, offen und ehrlich. Und hatte trotzdem noch nie einen dauerhaften Job. Der 35-Jährige ist Autist.

"Inklusion ist in Deutschland noch kein vorrangiges Thema", erklärt Rainer Eckert. "Und wenn, kommt man mit einer körperlichen Behinderung viel einfacher in einen Betrieb als als neurodiverser Mensch." Knapp eine Million diagnostizierte Autisten gibt es in Deutschland, nur zehn Prozent von ihnen sind im ersten Arbeitsmarkt beschäftigt.

Das ärgerte den 76-Jährigen so sehr, dass er vor zwei Jahren begann, das Netzwerk "Arbeit & Autismus Rhein-Main" aufzubauen. Es soll Unternehmen vernetzen oder unterstützen, wenn sie Autisten einstellen wollen, aber noch unsicher sind. Mit 20 Partnern hat Eckert angefangen, mittlerweile hat das Netzwerk 100 Mitglieder aus dem Rhein-Main-Gebiet. Manche wollten sich nur informieren oder austauschen, manche kämen aber auch mit einer konkreten Frage.

Zum Beispiel der, warum der Azubi immer mit riesigen Kopfhörern und Sonnenbrille in den Betrieb kommt und nie gemeinsam mit den Kollegen Mittagspause macht. "Auf Unternehmensseite gibt es oft Hemmungen, das direkt anzusprechen", sagt Daniela Fuchs, Eckerts Projektpartnerin. Und obwohl jeder Autist ein Einzelfall sei, ähnelten sich viele in bestimmten Verhaltensweisen: "Neurodiverse Menschen sind oft sehr licht- oder lärmempfindlich", sagt Fuchs. Auch Daniel Tiedge. "Ich kann mir schwer vorstellen, in einem Großraumbüro zu arbeiten", sagt er.

Ein Tipp: Einfach den Autisten selbst fragen

Und auch die Sache mit der Pause sei leicht erklärbar: "Autisten nehmen die Welt anders wahr. Deshalb müssen sie sich ständig anpassen. Oft sind sie nach einem halben Tag schon so erschöpft, dass sie sich lieber eine Weile zurückziehen, statt die Mittagspause auch noch mit den Kollegen zu verbringen", sagt Eckert. Träten Unternehmen mit solchen Fragen an ihn heran, werde zunächst eine anonyme Fallanalyse erstellt. Dann könne er Kniffe an die Hand geben. "Oder ich rate, die Autisten einfach zu fragen. Die sind ja nicht beschränkt."

Daniel Tiedge, der bisher in recht sachlichem Ton beschrieben hat, wie er schon im Kindergarten gemobbt wurde, beim Diktat nicht mitkam oder von Lehrern auf dem Gymnasium gesagt bekam, dass er das Abitur doch eh nicht schaffen werde, nickt. Und sagt dann fast beschwörend: "Mein Kopf ist nicht so gedankenleer, wie es von außen scheint."

Weil er sich für Züge und Bahnstrecken interessiert, hat er im Frühjahr eine Initiativbewerbung mit fünf Projektideen an die Deutsche Bahn geschrieben. Darunter ein neuartiger Bahn-Wanderweg, eine App mit wichtigen Streckenmerkmalen oder ein Hilfsangebot für neurodiverse Bahnfahrer. "Ich habe leider noch keine Rückmeldung bekommen."

Ob Autisten eine Chance haben, hänge vor allem von den handelnden Personen ab, sagt Fuchs. Denn das Potenzial, das in vielen Autisten steckt, könnten nur Menschen erkennen, die nicht primär auf formale Qualifikationen achteten, sondern darauf, was ein Mensch könne. So habe zum Beispiel SAP eine Controlling-Abteilung, die nur aus Autisten besteht, weil viele von ihnen gut in Logik, Detailgenauigkeit und Mustererkennung sind. Fuchs selbst arbeitet als Job Coach beim IT-Consultingunternehmen Auticon, für das ebenfalls ausschließlich autistische Berater tätig sind.

Idealer Einsatzort sei zum Beispiel auch das Hotelgewerbe: "Wenn ein Autist für 200 Leute deckt, können Sie sicher sein, dass jeder Löffel an der richtigen Stelle liegt", sagt Eckert. Mustererkennung helfe auch bei der Kofferkontrolle am Flughafen. Zudem könnten viele Autisten auch bei gleichförmigen Tätigkeiten lange konzentriert blieben.

Noch sei es vielen Unternehmen aber zu riskant, einen Autisten einzustellen. "Wir müssen die Betriebe erst überzeugen", sagt Eckert. Deshalb moderieren er und Daniel Tiedge Fortbildungen für Unternehmen mittlerweile gemeinsam. Für den 35-Jährigen fast Routine, nachdem er zwei Jahre lang als Fahrgasterheber gearbeitet hat, um seine Kommunikationsfähigkeiten zu trainieren.

"Es war eine Herausforderung, so viele fremde Menschen anzusprechen. Aber es hat mir auch Stabilität gebracht", sagt er. Denn die Arbeitslosigkeit setzt ihm enorm zu. So sehr, dass er Bewegungsstörungen entwickelt hat. "Ich möchte doch nur eine Arbeit, die mir Spaß macht, und mit der ich einen gesellschaftlichen Mehrwert schaffe." Die Bewegungsstörungen hat er mittlerweile im Griff, weshalb er nun wieder Bewerbungen schreibt. "Ich halte es da mit Berthold Brecht: Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren." Natürlich gebe es auch Tage, an denen er glaube, gar nichts zu können. Oder solche, an denen er an der Ablehnung der Gesellschaft verzweifele. "Aber wissen Sie, man lebt ja nur einmal. Und man muss versuchen, trotz gesundheitlicher Einschränkungen das Beste daraus zu machen."

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