1. Startseite
  2. Frankfurt

"Der Awo-Skandal war absehbar"

Kommentare

Yanki Pürsün (48) ist seit 1992 Mitglied der FDP, 2002 bis 2011 und seit 2016 Stadtverordneter in Frankfurt, Mitglied des Ausschusses für Soziales und Gesundheit und gesundheitspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im Römer, außerdem seit 2018 Landtagsabgeordneter für den Frankfurter Wahlkreis IV und gesundheitspolitischer Sprecher der FDP-Landtagsfraktion.
Yanki Pürsün (48) ist seit 1992 Mitglied der FDP, 2002 bis 2011 und seit 2016 Stadtverordneter in Frankfurt, Mitglied des Ausschusses für Soziales und Gesundheit und gesundheitspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im Römer, außerdem seit 2018 Landtagsabgeordneter für den Frankfurter Wahlkreis IV und gesundheitspolitischer Sprecher der FDP-Landtagsfraktion. © Bernd Kammerer

Yanki Pürsün berichtet im Interview über die Aufarbeitung der Finanzaffäre, die Rolle des Magistrats und Corona.

Yanki Pürsün (FDP) setzt sich seit Bekanntwerden des bis heute unübersichtlichen Finanzskandals bei der Arbeiterwohlfahrt (Awo) und den Verstrickungen zwischen den Kreisverbänden Frankfurt und Wiesbaden für die rückhaltlose Aufklärung sämtlicher Umstände ein. Auch für das kommende Jahr hat er sich einiges vorgenommen. Mit ihm sprach Sylvia A. Menzdorf.

Herr Pürsün, das war ja ein aufregendes 2020 für Sie.

Das kann man so sagen. Aufregend war es ja wegen Corona eigentlich für uns alle. Für mich hat sich 2020 völlig anders entwickelt als geplant. Statt ein Jahr voller Chancen war es zu 90 Prozent dominiert von der Pandemie und vom Awo-Skandal.

Was hat Sie 2020 mehr in Anspruch genommen: Ihr Auftrag als gesundheitspolitischer Experte der FDP oder ihr selbst verschriebener Auftrag als Aufklärer der Awo-Affäre?

Schwer zu sagen. Als Corona aufflackerte, musste ich darauf meine Priorität ausrichten. Das heißt aber nicht, dass das Awo-Thema geruht hätte. Zeitlücken habe ich genutzt, um meinen Erkenntnisgewinn voranzutreiben. Als Corona da war, musste erst mal eine Grundsatzfrage gelöst werden: Ist diese Krise vor allem Sache der Exekutive oder wollen wir als Landtagsabgeordnete der Opposition, als Vertreter der Legislative, unseren Beitrag leisten? Schweigen kam für mich nicht in Frage. In der Fraktion habe ich dafür geworben: Wir machen uns schlau und bringen uns ein. Da wurde nicht lange gefackelt, das ging dann sofort in diese Richtung.

Fangen wir mal mit A wie Awo an. Haben Sie eigentlich neue Erkenntnisse im abgelaufenen Jahr gewonnen?

Sehr vielfältige. Als im November 2019 herauskam, dass auch die Gattin des Oberbürgermeisters als Kita-Leiterin bei der Awo ein überhöhtes Gehalt bezogen hat, hatte ich sofort den Eindruck: Das ist eine Riesengeschichte - auch wegen der Verflechtungen bis in die Politik. Im Laufe des zu Ende gehenden Jahres ist mir eigentlich erst richtig deutlich geworden, wie unendlich groß der Skandal ist, wie viel Fleiß und Unnachgiebigkeit es erfordert, da durchzudringen. Wie es auf einzelne Menschen ankommt, die ebenfalls beharrlich nachfragen. Leider, auch das gehört zu den gewonnenen Erkenntnissen, wollen es manche nicht thematisieren.

Sie schon.

Als Stadtverordneter habe ich bis jetzt 69 Anfragen zum Thema Awo gemacht. Nicht, um den Magistrat oder Stadtverwaltung zu piesacken, sondern den Magistrat zu zwingen, Farbe zu bekennen. Und auch, um am Ende zu schauen: Gibt es Widersprüche in den Stellungnahmen einzelner Personen oder zu bestimmten Sachverhalten. Auf viele Anfragen liegen schon Antworten vor. In vielen sind Lücken und Widersprüchlichkeiten erkennbar. Das finde ich vielsagend. Da gibt es noch viel Informations- und Klärungsbedarf.

Wie hilfreich war die Arbeit im Akteneinsichtsausschuss?

Unendlich hilfreich und erhellend. Ich weiß gar nicht, wie viele Stunden ich verbracht habe mit dem Lesen der Akten, die man normalerweise als Parlamentarier nie sehen würde. Vor allem habe ich buchstäblich vor Augen gehabt, dass Dinge selten reibungslos funktionieren. Eine der fundamentalen Erkenntnisse ist: Wenn der Magistrat sagt, der Awo-Skandal war vorher nicht absehbar, nicht erkennbar, dann muss ich nach Einsicht in die Akten ganz klar widersprechen.

Inwiefern?

Es gab hinsichtlich der beiden von der Awo betriebenen Flüchtlingsheime von Anfang an Fragezeichen, Unklarheiten, Zweifel. Aber man hat sich gesagt: Die Awo ist langjährige Partnerin der Stadt, da halten wir jetzt mal die Füße still, da wollen wir keinen Eklat. In Absprachen wurden wichtige Dinge nicht hinreichend konkret definiert. Da war nichts krisenfest. Bei den Kita-Plätzen etwa hat man zu stark auf Wachstum gesetzt und die Anpassung der Qualität in der Verwaltung völlig außer Acht gelassen. Hätte man im Blick gehabt, ein betrugssicheres System zu schaffen, wären Kontrolleure gar nicht erforderlich gewesen. Jetzt will der Magistrat die Zahl der Kontrolleure erhöhen. Das morsche System wird aber nicht angerührt. Da frage ich mich: Was soll das?

Wo haben Sie Unterstützung erfahren bei Ihren Bemühungen, Licht ins Awo-Dunkel zu bringen?

Um ehrlich zu sein: Ich hätte nie damit gerechnet, dass meine Aufklärungsarbeit so viel Aggression bei gewissen Menschen hervorruft. Auch aus dem inneren Kreis der Awo und auch der SPD. Auch bei Menschen, die ich lange kenne. In den sozialen Medien, und nicht nur da, wurde ich beschimpft, bedroht und wirklich unangenehm angegangen. Dabei hatte ich ganz naiv gedacht: Wir sind uns als Stadtgesellschaft einig in dem Ziel, dass, wenn die Stadt geprellt wird, das glasklar zu benennen und aufzuarbeiten ist.

Das ist nicht der Fall?

Jetzt weiß ich: Viele wünschen das gar nicht. Das gilt aber nicht allgemein. Es gab glücklicherweise auch Politikerkollegen, und zwar parteiübergreifend, die mir Mut zugesprochen und mich ermuntert haben, dranzubleiben. Das geschah meist nicht öffentlich bei Kollegen von CDU und Grünen, die in der Koalitionsdisziplin gebunden sind.

Und außerhalb der Politik?

Bis heute gab und gibt es viel Ermunterung und Unterstützung aus der Bevölkerung. Es gibt viele Bürger, die sich verantwortlich fühlen, zur Aufklärung beizutragen, die Erlebtes berichten. Sie werden damit quasi Teil der Recherche. Das sind Bürger, die sagen: Das ist meine Stadt, meine Gesellschaft, das ist meine Verantwortung. Solche Menschen sind ein Segen für jede Gemeinschaft, und es macht mich stolz, dass sie mir ihr Vertrauen schenken.

Eine ihrer jüngsten Anfragen zum Awo-Komplex betraf eine mehr als fünf Jahre zurückliegende Reise in die USA, nach Philadelphia. Ist es nicht ziemlich unerheblich, wer genau damals gereist ist?

Könnte man vielleicht meinen. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist hochinteressant, weil gerade hier Verflechtungen offenbar werden und auch, wie sich was bedingt. Auf diese Reisen und den Verein, der sie veranstaltet hat, bin ich erst nach etlichen Hinweisen aus der Bevölkerung aufmerksam geworden. Es geht um die Philadelphia-Gesellschaft, gegründet und geführt von damaligen Awo-Größen wie Jürgen Richter und seiner Frau Hannelore. Vereinsziel: Anbahnung und Pflege einer Städtepartnerschaft zwischen Philadelphia und Frankfurt.

Was irritiert Sie daran?

Die Frage, die nicht nur ich mir stelle, ist: Wie kann die Awo mit einem frisch gegründeten Verein eine dermaßen intensive Verbindung zu Philadelphia glaubhaft machen, dass ihre Repräsentanten als offizielle Delegation der Stadt Frankfurt die Partnerschaft der Städte anbahnen? Zumal es in Frankfurt die in punkto Beziehungen zur USA bestens etablierte und renommierte Steuben-Schurz-Gesellschaft gibt. Interessant ist, dass nicht nur Jürgen Richter in offizieller Mission auf die Reise geschickt wurde, sondern dass auch seine Frau Hannelore mit von der Partie war. Dass Ehepaare gemeinsam reisen, ist für Delegationsreisen völlig unüblich. Damit hat der Oberbürgermeister nach meiner Auffassung der Städtepartnerschaft keinen Gefallen getan, sehr wohl aber seinen Freunden, dem Ehepaar Richter. Hannelore Richter hatte sich wohl auch schon erkenntlich erwiesen: indem sie per handschriftlichem Vermerk die Höherstufung des Gehaltes für Frau Feldmann anwies. So zeigt diese Reise geradezu exemplarisch, wie die Richters und Peter Feldmann, die einander bekanntlich verbunden waren, sich gegenseitig Gefallen erwiesen haben. Interessant ist, dass der Oberbürgermeister Fragen zu dieser Reise bis heute nicht beantwortet hat.

Da müssen Sie wohl noch dicke Bretter bohren.

Sieht so aus. Ich werde nicht aufgeben.

Kommen wir zu Corona. Seit etwa zehn Monaten beschäftigt uns das Virus. Ganz Deutschland ist inzwischen Risikogebiet - und Frankfurt mittendrin. Kann Frankfurt Krisenmanagement?

Eigentlich schon. Beim Thema Gesundheitsfürsorge haben wir es nun aber mit einem Fachdezernenten zu tun, zu dessen Kernkompetenzen vielleicht nicht kühler Kopf, klare Kommunikation und ein gewisser Weitblick gehören. Er hat nicht alles falsch gemacht, aber leider ein paar entscheidende Dinge nicht richtig. Wir erinnern uns sicherlich noch alle an das Geeiere um das Heimspiel der Eintracht am 10. März. Am Vormittag verkündeten der Dezernent und der Leiter des städtischen Gesundheitsamtes: Wir haben hier gar kein Corona, Risiko geht gegen null bei 50 000 Zuschauern im Stadion.

Damit stand Frankfurt ja alleine.

Am selben Tag wurden im ganzen Land Großveranstaltungen verboten. Am Nachmittag wurden dann doch die Zuschauer ausgeladen. In Skandinavien war man da schneller. Mit dem Gesundheitsausschuss war ich Anfang März in Kopenhagen. Jeden Tag hörten wir die Horrormeldungen von steigenden Infektionszahlen in Europa, auch in Deutschland. Am 6. März reisten wir zurück. Kurz darauf kam dort schon der Lockdown, während man aus dem Gesundheitsamt öffentlich hörte, Corona sei wie eine Grippe.

Wie leistungsfähig ist das städtische Gesundheitsamt?

Im Sommer 2019, als von Corona noch niemand wusste, habe ich per Anfrage an die Landesregierung Auskunft über den Zustand der Gesundheitsämter begehrt. Die Antwort kam im Oktober 2019 und lautete sinngemäß: Die hessischen Gesundheitsämter sind überwiegend nicht in der Lage, ihre Aufgaben zu erfüllen. Geschehen ist nichts. Dann kam Corona. Im März 2020 habe ich als Stadtverordneter für die FDP-Fraktion den Antrag gestellt, das Frankfurter Gesundheitsamt maximal personell zu verstärken durch Entsendung von Personal aus anderen Bereichen der Verwaltung. Der Antrag wurde abgelehnt. Als Anfang Mai die Maxime des Robert-Koch-Instituts aufkam, für eine effektive Kontaktnachverfolgung Infizierter dafür zu sorgen, dass fünf so genannte Containment-Scouts pro 20 000 Einwohner bereitstehen, hat der Gesundheitsdezernent auch das abgelehnt. Jetzt setzen wir uns ein für die zügige Digitalisierung aller Gesundheitsämter im Land.

Seit Sonntag wird im ganzen Land geimpft. Es ist noch nicht genug Serum für alle da. Ein Organisationsfehler?

Der Engpass ergibt sich aus zu geringen Bestellmengen. Im August hatte ich an die Landesregierung die Frage gestellt: Habt ihr genug Impfstoff vorbestellt? Im Oktober habe ich die Frage nach der erwarteten Verfügbarkeit gestellt. Eine Antwort habe ich nicht bekommen. Jetzt erleben wir alle, was los ist. Ich verstehe, dass die europaweite Organisation der Impfstoffbeschaffung komplex und anspruchsvoll ist. Gut finde ich den europäischen Weg bei der Zulassung. Statt einer Notfallzulassung wie in Großbritannien und USA gibt es hier eine ordentliche Prüfung. Das wird das Vertrauen der Bevölkerung in den Impfstoff fördern.

Werden Sie sich impfen lassen?

Wenn ich an der Reihe bin: auf jeden Fall.

Auch interessant

Kommentare