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Russische Agenten spionierten den Stadtteil aus

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Als Stadtteilhistoriker hat Matthias Vetter zum Widerstand russischer Dissidenten aus dem Frankfurter Westen geforscht. FOTO: maik reuss
Als Stadtteilhistoriker hat Matthias Vetter zum Widerstand russischer Dissidenten aus dem Frankfurter Westen geforscht. © Maik Reuß

Osteuropa-Experte legt Buch zu Kaltem Krieg und Dissidenten vor

Ursprünglich wollte der Sossenheimer Matthias Vetter ja nur einen Aufsatz für einen lokalgeschichtlichen Sammelband schreiben. Doch bei der Recherche zum Widerstand russischer Dissidenten aus dem Frankfurter Westen kam für den Osteuropa-Historiker Vetter der Appetit auf mehr: Nun legt er gleich ein ganzes Buch vor - Titel: Wir bringen den Tyrannen den Tod“ - eine spannende Materie mit starkem Sossenheimer Lokalbezug. Am Freitag, 20. Januar, wird er das Werk in der Stadtteilbibliothek vorstellen. Entstanden ist es in der von dieser Zeitung unterstützten Reihe „Stadtteilhistoriker“ der Polytechnischen Gesellschaft und dreht sich um den Verlag „Possev“ und seinen Beitrag zum Niedergang der UdSSR.

300 Seiten voller Fakten

Das über 300 Seiten starke Werk strotzt nicht nur vor Faktenfülle. Vetter versteht es auch, die mitunter komplexen historischen Zusammenhänge plastisch und packend zu vermitteln. Etwa, wenn er den Leser gleich zu Anfang an die Hand und auf einen Spaziergang in den Flurscheideweg am Stadtteilrand nimmt, und seinen Blick auf ein kastenförmiges dreistöckiges Haus hinter hohen Bäumen lenkt. Indem er globale Geschichte im Stadtteil sichtbar macht, bringt er ihn sogleich auf die Fährte seiner Untersuchungen: „Der Flurscheideweg birgt mit dem Zentrum der exilrussischen Vereinigung NTS (dt.: Bund Russischer Solidaristen, Volksbund der Schaffenden) und des Verlages Possev einen historischen Ort: eine der Kommandozentralen der Ost-West-Auseinandersetzung, einen Gedächtnisort des Kalten Krieges, trotz versteckter Lage am Siedlungsrand ein Angriffsziel von Geheimdiensten und ihren Helfershelfern, aber auch einen Stützpunkt von Partnern anderer Geheimdienste.“

Das Haus sei, fährt Vetter fort, Teil einer bewegten und dramatischen Geschichte, „verknüpft mit fast allen Schrecken des 20. Jahrhunderts: Krieg, Flucht und Vertreibung, Diktatur“. Aber auch, was man dem Gebäude genauso wenig ansehe: ein Verlagshaus, das mit Veröffentlichungen in zumeist russischer Sprache lange Zeit Weltbedeutung gehabt habe. Als Sprachrohr nämlich „für Gedanken, die an ihrem Entstehungsort nicht ausgesprochen werden durften.“

Wie Vetter aufregende Geschichten vor dem Leser ausbreitet, erweist ihn nicht nur als akribischen Historiker, sondern auch als Erzähler von Rang. Die Kapitel lösen ihre vielversprechenden Titel ein: „Zerstören, Einschüchtern - Neuanfang in Sossenheim“, „Imperialistenknechte und Perverse in Sossenheim: Polemik“ oder „Liebesagentinnen und Seidentücher im Wald: Verrat“.

Heute, lange nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Sowjet-Reiches, hat der einst in Sossenheim ansässige Verlag längst seine Arbeit an die Moskwa verlegt. Geblieben ist in Sossenheim der Verein „Gesellschaft Possev für deutsch-russische Völkerverständigung“; die einstigen Räume des NTS und des Verlages im Flurscheideweg 15 sind mittlerweile zu einem Veranstaltungszentrum unter anderem für Konzerte und Lesungen geworden. In Vor-Corona-Zeiten seien sie für Vetter, der auch Russisch spricht, „ein lokales Freizeitangebot mit exotischem Charme“ gewesen, das er viele Jahre lang gerne wahrgenommen habe.

Lose Fäden verknüpfen

„Zugleich wusste ich als Osteuropa-Historiker durchaus, dass diese Gruppierung eine bewegte Geschichte hat - ohne viele Details zu kennen“, fügt er hinzu. Irgendwann seien es so viele lose Fäden gewesen, die er habe verknüpfen wollen. Zumal das Thema sowohl lokalgeschichtlich wie auch in seiner Gesamtheit noch von niemandem bearbeitet worden sei. „Die Studie ist die erste wissenschaftliche Gesamtdarstellung dieser Exilorganisation von ihrer Gründung bis heute“, klärt der Klappentext auf.

Für die Recherchen seines umfangreichen Themas griff er auf verschiedene Quellen zurück - auch der auf beiden Seiten involvierten Geheimdienste, des Bundesarchiv und des Stadtarchivs. So ist sein Werk auch eine Chronik der jahrzehntelang gescheiterten Liberalisierung Russlands - und als solche im Lichte jüngster Ereignisse wieder erschreckend aktuell. Michael Forst

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