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Kinderpsychiaterin über Folgen von Corona: „Sportvereine wichtiger als Sozialarbeiter“

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Kinderpsychiaterin Christine Margarete Freitag aus Frankfurt spricht über die Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Jugendliche.

Frankfurt - Immer wieder taucht im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie der Begriff „verlorene Generation“ auf. Die könnte es geben, wenn wir nicht bald umsteuern, sagt Christine Margarete Freitag. Allerdings sei es eine andere als viele annähmen. Mit Redakteurin Sarah Bernhard sprach die Kinderpsychiaterin und -psychotherapeutin darüber, welche Kinder von der Pandemie und ihren Folgen besonders betroffen sind, was getan werden kann und was passieren muss, um die „verlorene Generation“ doch noch zu retten.

Frau Freitag, viele Studien haben gezeigt, dass junge Menschen ein höheres Risiko hatten, dass sich ihr psychisches Befinden während der Pandemie verschlechtert. Warum eigentlich?

Gerade zu Beginn sind sowohl die Kontakte zu Gleichaltrigen und Freunden weggefallen, als auch die klare Alltagsstruktur, die Kinder und Jugendliche zur Orientierung brauchen. Zusätzlich mussten sie oft noch selbstständig Dinge für die Schule machen, etwas, das man zum Beispiel von Grundschülern eigentlich noch gar nicht verlangen kann. Bei vielen Kindern hat das zu einem deutlichen Leistungsrückstand geführt. Bei denen, die schon vorher zu psychischen Auffälligkeiten neigten oder die für ihr Wohlergehen viele Kontakte brauchen, kamen psychische Erkrankungen dazu.

Zum Beispiel?

Während des Lockdowns ist die Zahl der Kinder mit Depressionen stark angestiegen, das hat sich in der Zwischenzeit aber schon wieder deutlich reduziert. Bei den Essstörungen war die Zunahme nachhaltiger, unter anderem durch den erhöhten Medienkonsum: Kinder und Jugendliche verbrachten mehr Zeit im Internet und den sozialen Medien, wo Influencer ein bestimmtes Schönheitsideal verbreiten. Mädchen müssen schlank sein, Jungs nicht nur schlank, sondern zusätzlich durchtrainiert. Während der Pandemie hatten wir teilweise Neunjährige mit Anorexie, also Magersucht, in der Klinik, sowohl Mädchen als auch Jungs.

Gleichzeitig fielen Bewegungsangebote weg, Kinder und Jugendliche saßen viel vor dem Computer, aßen aus Langeweile. Seit die Schulen wieder offen sind, ist aber auch das wieder etwas besser geworden. Wir sehen auch, dass Angststörungen stärker geworden sind. Gerade Kinder mit sozialen oder Leistungsängsten haben durch die Schulschließungen so viele zusätzliche Ängste aufgebaut, dass sie zum Teil bis heute nicht wieder hingehen. Es ist aber wichtig, zu sehen: Die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen ist gut durch die Pandemie gekommen.

Kinderpsychiaterin aus Frankfurt: Sozial schwache Kinder haben weniger Unterstützung

Gibt es Unterschiede zwischen Jugendlichen aus gutsituierten und ökonomisch schlechter gestellten Familien?

Bezüglich psychischer Störungen eher nicht. Allerdings wird als Langzeitfolge der Schulschließungen vermutlich die Schulabbrecherrate bei Jugendlichen aus ökonomisch schwachen Familien steigen, weil sie zu Hause oft weniger Unterstützung haben.

Woran liegt es dann, ob jemand gut durch die Pandemie gekommen ist oder nicht?

Es ist eine Mischung aus Veranlagung und Sozialisierung. Ich denke, dass Kinder und Jugendliche, deren Familien Probleme als lösbar ansehen, und die zu selbstständigem Problemlösen erzogen wurden, wie generell im Leben Vorteile hatten. Das gilt auch für Kinder und Jugendliche mit Geschwistern oder vielen Freunden, also einem sozialen Netz. Für Einzelkinder, gerade von Alleinerziehenden, war es am schwersten, weil sie sehr viel alleine waren.

Was tun Sie, um den betroffenen Kindern und Jugendlichen zu helfen?

Wir haben eine Früherkennungs-Ambulanz eingerichtet, die über Spenden finanziert wird. Dort bekommt man innerhalb von zwei Wochen einen ersten Beratungstermin, um zu schauen, ob und welche Maßnahmen notwendig sind. Die Familien und ihre Kinder bekommen Tipps, welche Umgehensweisen förderlich sind, zum Beispiel, um besser mit Ängsten oder Wutanfällen umzugehen. Wenn tatsächlich eine schwerere Erkrankung da ist, übernehmen wir die Patienten in die reguläre Ambulanz, allerdings mit einer Wartezeit.

Für Kinder, die krank sind, aber nicht so schwer, dass sie teilstationär oder stationär kommen müssen, wird es demnächst außerdem Kurzzeittherapien geben, die nicht wöchentlich, sondern nur alle drei oder vier Wochen stattfinden. Da wird es einerseits darum gehen, zu verstehen: Warum geht’s mir so und was kann ich dagegen machen? Außerdem üben die Kinder, sich in bestimmten Situationen richtig zu verhalten.

Frankfurt: „Bräuchten viel mehr Bewegungs- und Gruppenangebote in Schulen“

Was können Eltern tun, damit es gar nicht erst zu einer Erkrankung kommt?

Sie sollten ihre Kinder dazu animieren, sich mehr zu bewegen, Freunde zu treffen und in die Schule zu gehen, damit sie wieder eine Alltagsstruktur bekommen und den Schulstoff nachholen. Und sie sollten den Medienkonsum ihrer Kinder regulieren.

Letzteres klingt schwieriger, als sie von einem Treffen mit Freunden zu überzeugen.

Ja, aber es ist wichtig. Kinder und Jugendliche sind vulnerabler als Erwachsene, weil sie noch nicht richtig durchschauen, ob sie angelogen werden oder nicht. Die Alternative wäre, Kommunikationskanäle aufzubauen, in denen es weder Influencer noch personalisierte Werbung gibt. Aber ich glaube nicht, dass das möglich ist, deshalb bleibt es Aufgabe der Eltern, mit ihren Kindern über deren Internetkonsum zu sprechen. Übrigens hat auch der Pornokonsum bei Kindern und Jugendlichen deutlich zugenommen. Die Folgen sind aber bislang noch nicht gut untersucht.

Woher wissen die Eltern denn, ob das Verhalten ihres Kindes noch normal ist oder schon eine Erkrankung vorliegt?

Das sieht man in der Regel gut. Wenn das Kind stark zu- oder abnimmt oder wenn es Schwierigkeiten hat, morgens aufzustehen und in Schule zu gehen, sollte man Hilfe suchen.

Was muss die Politik tun, um Kinder und Jugendliche zu unterstützen?

Wir bräuchten viel mehr Bewegungs- und Gruppenangebote in Schulen, die einen Raum bieten, um sich zu treffen, oder den Schulstoff nachzuholen. Ich wäre dafür gewesen, in den Sommerferien zwei Wochen gemeinsames Lernen anzubieten, aber das ist leider nicht passiert. Dabei sind solche Gruppenveranstaltungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene gut wirksam und sinnvoller als individuelle Maßnahmen. Sportvereine sind oft wichtiger als Sozialarbeiter oder Psychotherapie, bei der die Kinder ja wieder alleine sind.

Und was können Jugendliche selbst tun?

Freunde treffen, gerade wenn man Angst davor hat, das wirkt antidepressiv. Und es hilft auch gegen Adipositas, weil man dann automatisch weniger Zeit zum Essen hat. Sich aktiv mit dem Leben auseinandersetzen. Mehr Sport treiben. Sich um die eigenen Hobbys kümmern. Wenn das nicht mehr geht, Gewichtsprobleme, starke Ängste oder Probleme mit dem Schulbesuch bestehen, dann sollte das behandelt werden, denn das schaffen Jugendliche alleine nicht.

Wird die Pandemie langfristige Auswirkungen auf die junge Generation haben?

Bei älteren Jugendlichen nicht so sehr, die können das Versäumte nachholen. Mehr Sorgen mache ich mir um die jüngeren Kinder. Der deutsche Bildungsbericht 2022 spricht von einer signifikanten Leistungsreduktion in Deutschland durch Corona, und Daten des Instituts für Schulentwicklungsforschung der Universität Dortmund weisen darauf hin, dass etwa ein Fünftel der Viertklässler nicht lesen kann. Das ist nicht mehr aufzuholen und wird ein großes Problem werden. Nicht nur für jeden Einzelnen, weil mangelnder Schulerfolg mit mangelndem Selbstwertgefühl einhergeht, sondern auch für die Gesellschaft. Deshalb müsste all unsere Energie in die Förderung und frühe Bildung der Kinder gesteckt werden.

Hat das die Politik schon verstanden?

Nein.

Professorin Dr. med. Dipl.-Theol. Christine M. Freitag ist seit 2008 Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Uniklinikum.
Professorin Dr. med. Dipl.-Theol. Christine M. Freitag ist seit 2008 Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Uniklinikum. © Rainer Rüffer

Frankfurt: „Kinder und Jugendliche sind unsere Zukunft!“

Die Auswirkungen der Gaskrise sind ja auch einfacher greifbar.

Aber Kinder und Jugendliche sind unsere Zukunft! Im Bundesbildungsministerium ist das schon angekommen, aber Schul- und Sozialpolitik ist Landespolitik, so dass jedes einzelne Bundesland die Zusammenhänge verstehen und effektive Interventionen umsetzen muss. Und daran scheitert es. Immerhin scheint jetzt Konsens zu sein, dass es keine Lockdowns mehr für Schulen geben wird. Aber dass man den Fokus eigentlich auf Grundschul- und Kindergartenkinder legen muss, auch was Sprachförderung und grundlegende Rechen-, Lese- und Schreibfähigkeiten angeht, das wurde leider noch nicht verstanden.

Gibt es eigentlich auch positive Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Jugendliche?

Ja. Wenn sie gut durchgekommen sind, haben sie das Gefühl bekommen, dass sie Krisen bewältigen können. Sie sind kompetenter mit dem PC, haben selbstständig gelernt und können das als Ressource einsetzen.

Ein völlig anderes Thema zum Schluss: Zu Beginn der Pandemie kam die Angst auf, dass Babys wegen der Masken, die die Erwachsenen tragen mussten, Mimik und damit Emotionen schlechter entschlüsseln können. Hat sich diese Angst bewahrheitet?

Nein, nicht einmal bei autistischen Kindern hatte das Auswirkungen, denn Emotionen erkennt man auch über die Stimme und die Augen. Maskentragen war definitiv das geringste Problem.

Eine weitere Auswirkung von Corona: Immer weniger Kinder in Frankfurt können schwimmen. Wegen der Pandemie konnten Schwimmkurse gut eineinhalb Jahre gar nicht und dann mit nur reduzierten Teilnehmerzahlen durchgeführt werden.

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