Stacheldraht zwischen Griesheim und Frankfurt

Es gab Zeiten, in denen man einen Pass brauchte, um über die Grenze zu kommen.
Frankfurt -Viel Lokales hatte der „Griesheimer Anzeiger“ vor exakt 100 Jahren nicht zu berichten. Gerade einmal 13 Zeilen widmete das Blatt den Neuigkeiten aus dem Ort. Ins Auge fielen die kurzen Meldungen den Lesern wohl dennoch: Schließlich war die Situation in der Gemeinde am 6. März 1923 durchaus angespannt. Einen Tag zuvor hatten französische Soldaten den Bahnhof besetzt. „Der Eisenbahnverkehr auf der Griesheimer Strecke Frankfurt-Griesheim-Nied ist eingestellt worden“, schrieb die Zeitung. Und weiter: „Sämtlicher Waren-Verkehr zwischen 7 Uhr abends und 7 Uhr morgens ist verboten.“ Nach Frankfurt kamen die Griesheimer innerhalb der genannten Zeit nur noch zu Fuß. Mit dem Fahrrad, Fuhrwerk oder Auto dürfe die Grenze jedenfalls nicht mehr überquert werden, berichtete das Lokalblatt.
Stacheldrahtzäune, Wachhäuschen und Schlagbäume trennten die damals noch eigenständige Gemeinde Griesheim bereits seit einigen Jahren vom großen Nachbarn. Als einer der östlichsten Punkte des französisch besetzten Rheinlandes war Griesheim Grenzort. Wer ins unbesetzte Frankfurt wollte, musste an einem der Kontrollpunkte zwischen Nidda und Main vorbei. Ein Wachhäuschen stand etwa an der Mainzer Landstraße hinter der heutigen Autobahnbrücke und dem Weg zum Fußballplatz der Sportfreunde 04; vorher war der Kontrollposten an der alten Niddabrücke in Nied.
30 Kilometer um den Mainzer Brückenkopf
Die Besetzung Griesheims war eine der Folgen der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg. Im Waffenstillstand von Compiègne hatte die provisorische Reichsregierung eingewilligt, alle deutschen Truppen hinter den Rhein zurückzuziehen. Frankreich, Belgien, Großbritannien und die USA besetzten die Gebiete links des Rheins sowie drei rechtsrheinische Brückenköpfe - Köln, Koblenz und Mainz - mit einem Radius von jeweils 30 Kilometern. Griesheim gehörte ebenso wie Höchst, Nied, Sossenheim und Schwanheim zum Mainzer Brückenkopf. Die Besetzung sollte einem erneuten deutschen Angriff auf Frankreich vorbeugen und den Franzosen ein Druckmittel verschaffen, um die Reparationsverpflichtungen des Deutschen Reiches durchzusetzen.
In Griesheim marschierten die ersten französischen Soldaten am 12. April 1919 ein. „Die Besatzer verhängten umgehend eine Ausgangssperre“, berichtet Dennis Blum vom Geschichtsverein Griesheim. Seit 2004 schreibt der Lokalhistoriker Jahresrückblicke für die Kalenderblätter des Vereins. Jahr für Jahr geht Blum die archivierten Bestände des „Griesheimer Anzeigers“ durch. Er sagt: „Für die Bevölkerung waren die ersten Nachkriegsjahre entbehrungsreich ohne Ende. Die Franzosen rationierten und beschlagnahmten Fenstergriffe aus Metall, Fahrräder oder Chemikalien, verhängten Import- und Exportbestimmungen, verboten Zeitungen, wie sie wollten, und auf der Straße herrschte Grußpflicht gegenüber französischen Offizieren - und zwar für jeden.“
Freunde machten sich die Besatzer damit ebenso wenig wie mit der Musterung und Erfassung aller Fahrräder, Pferde, Maulesel, Autos und Motorräder. 1921 mussten die Griesheimer dafür auf den Mainwiesen am Stadtweg zwischen der Backhausstraße (heute: Am Brennhaus) und Friedrichstraße (August-Bebel-Straße) erscheinen. Als dann im April 1921 auch noch Zollkontrollen eingeführt wurden, drohte die Stimmung zu kippen. „Grundsätzlich bestand ein riesiges Konfliktpotenzial“, sagt Blum. In Griesheim hatte bereits die Parade, die die Franzosen nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrags veranstaltet hatten, zu Reibereien geführt.
Besatzer aus Nordafrika
Als besonders demütigend empfanden viele Deutsche, dass ein großer Teil der 3500 Soldaten, die Höchst, Nied, Sossenheim, Schwanheim und Griesheim besetzt hielten, aus Nordafrika kam. Man sprach von der „schwarzen Schmach“ und hetzte gegen die Nordafrikaner, die „Utschebebbes“. Die marokkanischen, algerischen und senegalesischen Soldaten fackelten im Gegenzug oft nicht lange: In Sossenheim etwa eröffneten am 29. Oktober 1919 zwei betrunkene marokkanische Soldaten das Feuer, weil ihnen mehr Alkohol verweigert worden war - ein Passant starb, die Tochter des Gastwirts wurde angeschossen.
Im besetzten Gebiet kam es immer wieder zu Angriffen auf Soldaten oder auf Kohletransporte. Die Besatzer antworteten mit Repressalien oder machten die Grenze dicht. „Für die Einwohner war das eine Katastrophe. Viele Griesheimer haben in Frankfurt gearbeitet und standen dann auf verlorenem Posten. Wer wochenlang nicht zur Arbeit kam, erhielt auch keinen Lohn“, sagt Dennis Blum, dessen eigene Großmutter damals davon betroffen war: Sie wohnte in Griesheim und machte in Frankfurt eine Lehre zur Weißzeugnäherin. Immerhin: Die Ausgesperrten erhielten finanzielle Unterstützung für den Lohnausfall.
Passieren ließ sich die Grenze generell nur, wenn man die richtigen Papiere hatte. Ohne „Verkehrskarte für im Grenzgebiet der Armee wohnhafte Arbeiter“ oder begrenzt gültigen Passierschein ging es nicht auf die andere Seite. Hinzu kam eine mehrsprachige, rotfarbige „Carte d’Identité“, die die Bürger im Besatzungsgebiet zusätzlich zum deutschen Ausweis mit sich führen mussten. „Das galt für alle über 16 Jahren“, erklärt Blum.
Französische Truppen in Frankfurt
Oft folgte die Besatzungspolitik den Veränderungen der politischen Großwetterlage. Als Reaktion auf das Eingreifen deutschen Militärs im „Ruhrkrieg“ marschierten französische Truppen am 5. April 1920 sogar in Frankfurt ein. Drei Tage später kam es an der Hauptwache zu schweren Zusammenstößen mit der Bevölkerung: Neun Menschen starben, 18 wurden verwundet. Nach knapp sechs Wochen räumten die Franzosen die Stadt aber wieder. Im Jahr 1923 war das deutsch-französische Verhältnis ob der französischen Besetzung des Ruhrgebiets und des passiven Widerstands, zu dem die Reichsregierung in Berlin aufgefordert hatte, besonders schlecht. Die Besatzer zogen die Zügel an, das kommt in den Meldungen des „Griesheimer Anzeigers“ deutlich zum Vorschein. Das „Höchster Kreisblatt“ durfte ab dem 1. März sechs Tage lang nicht erscheinen, und neben der Griesheimer Bahnstrecke wurde auch die Zugverbindung zwischen Höchst und Limburg unterbrochen.
Höchster Bürgermeister im Frankfurter „Exil“
Am 5. März 1931 besetzten die Franzosen Teile von Mannheim und Darmstadt, es kam zu Ausweisungen und Verhaftungen. In Griesheim traf es im Mai einen Gemeindevertreter und zwei Lehrer, und einen Monat später musste auch der Bürgermeister Benno Schubert gehen. In einem persönlichen Aufruf wandte er sich am 23. Juni mit einem „herzlichen Lebewohl“ an „die Einwohner von Griesheim“. Die Amtsgeschäfte führte er vom Harz aus weiter. Der Höchster Bürgermeister Bruno Asch tat das gleiche aus dem „Exil“ in Frankfurt.
Wenige Tage später wurden nach einem Bombenanschlag in Duisburg auf einen belgischen Militärzug die Grenzen dichtgemacht und alle an deutsche Staatsangehörige ausgestellten Erlaubnisscheine für ungültig erklärt. Die Folgen waren insbesondere für die Gastwirte dramatisch: Der Apfelwein ging aus - in den Kneipen gab es nur noch Bier. Mit dem Ende des „Ruhrkampfs“ kehrte allmählich Normalität ein. „Die Leute hatten sich mit der Besatzung arrangiert, und die Franzosen erkannten, dass strenge Repressalien nichts bringen“, sagt Blum. Mitte 1930 - zwei Jahre nach der Eingemeindung nach Frankfurt - räumten die Franzosen die besetzten Gebiete. Mit einer „Befreiungsfeier“ in der damaligen Wirtschaft „Zum Taunus“ begossen die Griesheimer das Ende der Fremdherrschaft.