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Viele Eltern beschäftigen sich "grauenvoll wenig" mit ihren Kindern

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"Morgen wird's besser" steht über dem Bild von dem Hasen, in den der Blitz einschlägt, der angebissen wird, dem jemand ein Ei auf den Kopf gebacken hat - aber er bleibt zuversichtlich. Das ist auch der Ansatz von Dr. Burkhard Voigt, Kinder- und Jugendarzt in Frankfurt und stellvertretender Landesverbandsvorsitzender Hessen des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte. FOTO: Michelle Spillner
"Morgen wird's besser" steht über dem Bild von dem Hasen, in den der Blitz einschlägt, der angebissen wird, dem jemand ein Ei auf den Kopf gebacken hat - aber er bleibt zuversichtlich. Das ist auch der Ansatz von Dr. Burkhard Voigt, Kinder- und Jugendarzt in Frankfurt und stellvertretender Landesverbandsvorsitzender Hessen des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte. © Michelle Spillner

Pädiater Burkhard Voigt spricht im Interview über die Auswirkungen der Pandemie, Süchte und Ersatzbefriedigungen.

Frankfurt -Stundenlang am Computer daddeln, pausenlos am Handy chatten, ohne Unterbrechung Filme und Serien schauen - was haben Kinder und Jugendliche während der starken Einschränkungen aufgrund der Pandemie und in der Zeit gemacht, als sie die Schulen und die Kindergärten nicht besuchen konnten? Ist das "nur" exzessives Verhalten oder haben sich da bereits Süchte entwickelt? Ist das schlimm? Wie kann man solches Verhalten wieder ablegen. Was können Eltern tun, wenn sie den Eindruck haben, dass ihre Kinder Dingen oder Tätigkeiten im Übermaß verfallen? Darüber hat Michelle Spillner mit Dr. Burkhard Voigt gesprochen. Er ist Kinder- und Jugendarzt in Frankfurt und stellvertretender Landesverbandsvorsitzender Hessen des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte.

Inwieweit stimmt es, dass Kinder und Jugendliche durch die Pandemie mehr Süchte entwickelt haben?

Die Pandemie im Allgemeinen ist in meinen Augen nicht Auslöser, sondern ein Katalysator, ein Verstärker dieser Problematik. Was die Zahlen betrifft: Ich kenne jetzt noch keine validen wissenschaftlichen Studien, aber es gibt natürlich ein paar Aussagen dazu.

Was sind das für Aussagen?

Die jungen Leute sagen, ich bin lustlos, ich habe überhaupt nichts mehr zu tun. Ihnen fehlt definitiv die Peergruppe, der individuelle Vergleich und darüber auch eine Bestätigung für sich selbst. Die sozialen Kontakte fehlen, und das hat Auswirkung auf Verhaltensweisen, dass man sich einen Ersatz für das sucht, was fehlt. Das Belohnungssystem in der Pandemiesituation ist zum großen Teil weggefallen.

Und dann werden Süchte entwickelt?

Ob das nun schon Süchte sind oder nicht, ob das schon in den Krankheitsbereich geht oder nicht, das muss man genauer untersuchen. Man muss grundsätzlich unterscheiden zwischen Substanzsüchten - wie nach Alkohol, Zigaretten oder Rauschgift - und Verhaltenssüchten wie exzessives Essen oder Spielen. Diese Dinge haben alle eine Zielrichtung: Wenn man es auf neurophysiologische Aspekte reduziert, dann bringen sie eine Dopamin-Befriedigung. Es geht um ein Glücksgefühl.

Warum spielt das für Kinder und Jugendliche eine größere Rolle als für Erwachsene und Ältere?

In der Pubertät ist es so, dass das Dopamin als Neurotransmitter nicht so stark wirkt, wie man das bei Erwachsenen gewohnt ist. Das ist mit der Grund dafür, dass Jugendliche nach größeren dopaminergen (Dopamin erzeugenden) Anreizen suchen (Belohnung-Risikoverhalten). Deswegen sind Jugendliche eher risikobereit und auch stärker abhängig von äußerer Bestätigung.

Heißt, inwieweit man dieses Bedürfnis nach Bestätigung und Befriedigung hat, ist vor allem auf einer biochemischen Situation begründet?

Das würde die Sache etwas zu stark reduzieren. Aber Biochemie oder Neurophysiologie sind eine Erklärung dafür. Das auf die neurophysiologische dopaminerge Wirkung zu reduzieren, das macht es zu einfach. Und es ist sehr individuell. Es gibt Menschen, die brauchen sehr viel Bestätigung, und es gibt Menschen und eben auch Jugendliche, die brauchen weniger Bestätigung.

Was meinen Sie mit Bestätigung und Befriedigung?

Die Frage, was befriedigt mich kann man nicht global beantworten. Kann ich Freude an Kunst haben? Damit kann man ja eine Zufriedenheit herstellen. Oder brauche ich wirklich den Kick? Das Bungee-Springen, den Extremsport? Das sind alles Dinge, die diesem Bedürfnis dienen.

Also: Ich habe keine Freunde, mit denen ich etwas erlebe, und das ersetze ich, indem ich stundenlang auf meinem Handy Bonbons abschieße und damit Punkte sammle?

Genau, und damit ja auch eine Bestätigung finde, die natürlich auch leicht zu holen ist. Und das ist eine Gefahr: Wenn etwas leicht verfügbar ist, dann ist es dementsprechend einfach zu nutzen.

In der Lockdown-Zeit waren die Kontakte und die Interaktionen ja deutlich eingeschränkt.

Genau, deshalb ist eine Pandemie Feuer dafür, solche Verhaltensweisen zu entwickeln. Jedoch ist dieses Feuer am geringsten, wenn das Setting in der Familie am besten ist.

Was ist ein gutes Familiensetting?

Es geht darum, welche Angebote Kinder in der Familie haben und das hängt nicht zwangsläufig von der sozialen Schicht ab, in der sie aufwachsen. Es ist so, dass in sozial niedrigeren Schichten die Angebote durchaus oft geringer sind. Aber auch in höheren sozialen Schichten, wenn beispielsweise beide Eltern Workaholics sind - auch eine Form der Befriedigung -, dann können Kinder dort auch Verhaltenssüchte oder auch Substanzsüchte entwickeln.

Es geht also darum, wie viel sich Eltern mit ihren Kindern beschäftigen?

Ja. Es ist oftmals grauenvoll wenig. Wir fragen in der U8, das ist mit vier Jahren: Kann ein Kind beim Spielen Regeln einhalten. Sie glauben gar nicht, wie oft ich gesagt bekomme: Spielen? Was meinen Sie? So ein Regelspiel, so etwas wie "Mensch ärgere Dich nicht", das kennen viele gar nicht. Kinder in solchen Familienstrukturen haben es natürlich schwerer, einen Ersatz für mangelnde Sozialkontakte oder Einschränkungen in der Freizeit zu finden. Wenn Kinder ihre Freunde nicht mehr treffen dürfen, die Schule wegfällt und der Kindergarten, dann ist überhaupt nichts mehr da. Und dann ist klar, dass sie zu anderen Befriedigungen greifen.

Lassen Sie uns mal die Begrifflichkeiten differenzieren. Wo hört das übertriebene Verhalten auf und wo fängt die Sucht an?

Das ist keine einfache Entscheidung. Es gibt sechs Kriterien, die man abfragt, um eine Sucht zu charakterisieren. Von diesen sechs müssen drei erfüllt sein, zum Beispiel Vermeidung von Sozialkontakten zur Erfüllung der Sucht oder das Suchen nach Ausflüchten, um seiner Sucht nachkommen zu können. Wenn jemand exzessiv Computer spielt, aber in der Schule keine Leistungsabfälle hat und seine Freunde immer noch besucht, dann ist das eher ein exzessives Verhalten.

Was sind es denn noch für Süchte oder Verhaltensweisen, die sich in so einer Situation entwickeln?

Vor allem bei Mädchen ist es das zwanghafte Chatten, das ständige am Handy sein. Da geht es darum, sich darzustellen. Bei Jungs eher Spielsucht, das ständige Zocken am Computer oder am Handy. Mediensucht. Auch Sexsucht gibt es schon im pubertierenden Alter.

Was ist das früheste Alter, in dem man eine Sucht entwickeln kann? Eine Vierjährige wird ja sicher keine Flummi-Sucht entwickeln, oder?

Aber zum Beispiel eine Bildschirmsucht. Mediensucht. Diese beinhaltet, dass die Kinder ständig nach Inhalten, nach Ablenkung suchen, auch schon ab dem Alter von zwei Jahren: Wenn das Handy nicht läuft, gibt es Terror. Cartoons werden geschaut. Das ist oft eine Beruhigungsmaßnahme, derer sich die Eltern bedienen. Und wie funktioniert das? Ich bin abgelenkt, ich bekomme irgendeinen Input, ob der sinnhaft ist oder nicht, spielt keine Rolle. Das Problem ist, dass das auch für die Entwicklung der Kinder sehr unzuträglich ist.

Warum?

Ich erkläre das den Eltern immer so - ohne dass das jetzt ein wissenschaftlicher Ansatz ist: Ihr Kind ist wie ein leerer Schwamm, das saugt alles auf. Jetzt sieht das Kind auf einem Bildschirm einen Vogel, der sitzt auf dem Wasser, kann fliegen und isst Fisch. Aber welcher Vogel das ist, diese Information wird nicht gegeben oder vorausgesetzt. Das weiß das Kind aber nicht. Das Kind speichert das Gesehene kontextfrei ab, aber es kann die Information gar nicht abrufen, weil es gar nicht weiß, welcher Vogel das ist, oder warum er das tut was er tut. Kinder sind nicht in der Lage, zu priorisieren, sie können nicht sagen, das ist wichtig oder das ist nicht wichtig, und sie können das Gesehene oft nicht selbst in einen Kontext setzen. Und das ist die Problematik dieser Mediensucht, dass es immer mehr Input gibt, aber die Erkenntnis und die damit verbundene Befriedigung erfolgt nicht.

Was raten Sie da?

Ich mache die Aufklärung schon ab der U6, mit elf Monaten. Ich sage den Eltern: Bitte bis drei bildschirmfrei. Medienverhalten kann auch zu einem zwanghaften oder gar Suchtverhalten führen.

Was können Eltern der Entwicklung von zwanghaftem Verhalten und Süchten bei ihren Kindern entgegensetzen?

Einfach Aktivitäten. Es ist ja nicht so, dass man nicht mehr rausgehen darf in der Pandemiesituation. Natürlich kann man rausgehen: Kletterpfad, Geländeparcours... . Es gibt viele Möglichkeiten, Befriedigung zu bekommen. Es ist eine Frage des Angebots, das man macht. Wenn ich nur zu Hause sitze und dem Tag seinen Lauf lasse und keinerlei Anreize gebe, etwas zu tun, dann wird man auf das leicht Verfügbare zurückfallen.

Wie bekomme ich denn mein Kind vom Computer weg? Wenn ich sage, komm wir gehen wandern... ?

Dann sagt das Kind: Kein Bock. Das ist nicht so einfach. Da muss man Motivationsstrategien entwickeln. Dass man erstmal fragt, worauf hättest du denn Lust? Oder sagt - erstmal in der Ich-Form -, also ich hätte Lust mal ans Felsenmeer zu gehen oder wir schauen uns mal die Fütterung der Robben im Zoo an oder wir gehen mal ins Städel und machen eine Kinderführung - worauf hättest Du denn Lust? Man muss sich vielleicht ein bisschen vorbereiten.

Kann man sagen: Wenn Du mit mir wandern gehst, dann bekommst Du etwas?

Das ist eigentlich nicht das Richtige. Ich würde zum einen sagen, Wandern ist vielleicht nicht das Richtige für Kinder und Jugendliche - mit Speck fängt man Mäuse, und Wandern ist jetzt nicht der Speck. Aber man kann ja andere Dinge anbieten, kreativ sein, Abwechslung schaffen, altersspezifische Dinge. Es gibt Zwölf-, Dreizehnjährige die sich durchaus mal eine schöne Kirche von innen ansehen. Oder mal durchs Senckenberg laufen oder ins Struwwelpeter-Museum... . Wir haben ja in Frankfurt so viele Dinge, die man machen kann. Man muss den richtigen Hebel beim Kind finden. Aber nicht den Teufel mit dem Beelzebub austreiben: Das wäre: Du bekommst die Playstation, wenn Du mit mir wandern gehst.

Was hilft noch?

Struktur ist etwas, was Sinn macht. Es gibt Kinder, die brauchen eine Struktur, eine Vorgabe, und es gibt auch durchaus welche, die können sich selbst Struktur aufbauen. Man kann es am Beispiel der Kindergartenkonzepte gut darstellen. Es gibt Kindergärten mit offenen Konzepten, das ist für manche Kinder super. Die sagen sich selbst, heute mache ich das und morgen das. Aber jemand, der keine Struktur hat, der ist hilflos und der macht immer dasselbe oder auch gar nichts. Für den ist das keine Erweiterung.

Und wenn es wirklich ein ganz krasses Suchtverhalten ist, was mache ich dann?

Oft sind wir als Kinder- und Jugendärzte die erste Anlaufstelle. Wir haben die Aufgabe, herauszufinden, wo ist die Grenze zur Sucht, das ist nicht immer einfach. Dann muss man Angebote machen, wie zum Beispiel Erziehungsberatung. Wenn ich sehe, dass schon soziale Defizite entstehen, dann geht es in Richtung Verhaltenstherapie bis hin zu suchttherapeutischen Angeboten. Das ist aber die Domäne der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Inwieweit sind denn Drogen bei Kindern und Jugendlichen ein Thema?

Ich habe in meiner Praxis wenig Kinder, bei denen ich das mitkriege. Und ich habe nicht den Eindruck, dass das mehr geworden ist. Was ich öfter sehe, ist autoaggressives Verhalten, also zum Beispiel sich selbst zu ritzen. Das sehe ich auch in der Pandemie deutlich mehr. Da geht es darum, etwas zu spüren, sich wahrzunehmen, man möchte ein intensives Gefühl haben. Das ist schon eine Auffälligkeit, die, da sie ja immer wiederkommt, in den Bereich der zwanghaften Störung gehört.

Wie groß ist die Chance, dass sich solche Auffälligkeiten und Süchte mit dem Ende der Pandemie einfach zurückbilden?

Das kommt darauf an. Wenn die Sucht erstmal manifestiert ist, dann werden ja Gründe gefunden, warum man das auch weiter tut und dann bleibt sie auch über die Pandemie hinaus bestehen. Das werden aber wissenschaftliche Arbeiten belegen müssen. Dann muss man schauen, haben wir denn nach der Pandemie tatsächlich mehr Suchtverhalten oder nicht.

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