Schüler sehen Straßenverkehr mal aus anderem Blickwinkel

Manchmal muss erst Schlimmes passieren, damit der Ruf nach Sensibilisierung laut wird. Zwei Schüler der Ludwig-Börne-Schule wurden Opfer von Verkehrsunfällen. Hier gibt es jetzt Verkehrsunterricht zum Anfassen.
Polizeihauptkommissar Thomas Gohla kennt das Leid. „Jugendliche sind in Frankfurt vier bis fünf Mal häufiger in Unfälle verwickelt als Kinder“, erklärt er. Ein Fragebogen unter 100 Schülern an vier Schulen habe ergeben, dass 25 von ihnen in den vergangenen drei Jahren einen Verkehrsunfall hatten, 20 davon mit dem Fahrrad. „Angezeigt wurden sieben, die Dunkelziffer scheint hoch zu sein.“ 2017 waren auch zwei 13- und 14-jährige Schüler der Ludwig-Börne-Schule auf dem Schulweg in Verkehrsunfälle verwickelt. Die Schulleitung schlug Alarm.
Das Pilotprojekt „Gefahrensensibilisierung“ der Polizei und von neun Partnern soll gerade die, die sich ohne Erwachsene im Straßenverkehr bewegen, aufmerksamer machen. Theoretisch und praktisch. Thomas Tuma (46) ist Verkehrspädagoge beim ADAC. Er steht vor 20 Jugendlichen an der Tafel, malt Linien und drei Strichmännchen auf, um anschaulich Bremswege zu erklären. „Wenn die drei rennen und genau an der Linie bremsen sollen, geht das?“, fragt er. Hände schießen in die Höhe, jeder darf seine Meinung sagen. Schritt für Schritt lernen sie so, was Schwung ausmacht, was glatte Straßen für Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer bedeuten. Und wo die Gefahren liegen. Vor ihrer Schule ist keine 30er-Zone, sondern es darf 50 Kilometer pro Stunde schnell gefahren werden. „Im Idealfall kann ein Autofahrer in einer Sekunde reagieren und den Fuß vom Gas nehmen. Bei Tempo 50 heißt das, der Wagen fährt zwölf Meter weiter, bis es überhaupt zu Bremsung kommt.“ Er wirft Schülern unerwartet einen Beutel zu. Manche fangen ihn, andere nicht, weil sie abgelenkt sind. Die Jugendlichen verstehen dadurch, was Ohrstöpsel und Handy ausmachen können.
Langer Bremsweg
Vor der Tür steht ein Blitzer der Polizei. Zwei Beamte beobachten im Wagen aufmerksam den Bildschirm. Die Kinder können darauf bei jedem passierenden Fahrzeug sehen, wie schnell die einzelnen Wagen sind. Auch wenn niemand in die Geschwindigkeitsfalle fährt, wirkt Tempo 50 für sie bedrohlich, da sie sich auf den Verkehr konzentrieren. Sie schätzen Geschwindigkeiten. Meist falsch. Um als Verkehrsteilnehmer zu Fuß oder auf dem Rad nachzuempfinden, was eine Vollbremsung ist, hat Tuma einen Wagen dabei und einen Bremsstreifen auf einer abgesperrten Nebenstraße aufgezeichnet. Die Schüler sollen am Rand Pylonen dort aufstellen, wo sie denken, dass der Wagen mit Tempo 30 bei einer Vollbremsung zum Stehen kommt. Jeder darf mitfahren. Der Wagen rutscht deutlich weiter, als die meisten Pylonen stehen.
Annette, Gabriella (13) und Charlize (14) besuchen die achte Klasse der Schule. Sie steigen zusammen ein, schnallen sich an. Tuma gibt Gas, nimmt Geschwindigkeit auf und bremst abrupt genau auf dem aufgemalten Streifen. Der Wagen rollt einige Meter weiter. Charlize sitzt vorne, die Augen weit aufgerissen. Als die drei aussteigen, sind sie ein bisschen blass. „Ich hatte am Anfang schon etwas Angst und wir sind alle bei der Vollbremsung erschrocken“, berichtet Gabriella. „Die anderen haben sogar ein bisschen geschrien.“ Tuma hatte sie bei der Fahrt abgelenkt, ein vermeintliches Eichhörnchen auf der Straße gezeigt. „Ich habe mir vor Schreck in den Finger gebissen“, erinnert sich Charlize und Annette erzählt, dass sie sich „voll am Gurt festgehalten hat. Es war heftig und cool zugleich“, sagt sie aufgeregt. Nach drei Schulstunden können die 60 Schüler jetzt nachempfinden, warum sie einen Fahrradhelm tragen sollten, nur an gekennzeichneten Übergängen die Straße überqueren und was Ablenkung bedeutet und ausmacht.
115 Unfälle mit Jugendlichen
„Im letzten Jahr waren in Frankfurt 115 Jugendliche an Unfällen beteiligt“, sagt Gohla. „Wenn das Pilotprojekt weiter Schule macht, könnten viele Unfälle durch gegenseitiges Verständnis und weitere Sicherheitsmaßnahmen für Radfahrer verhindert werden. Die Zahl der jugendlichen Unfallbeteiligten ist zwar seit 2016 von 149 gesunken, aber es sollten noch viel weniger werden.“
von SABINE SCHRAMEK